Virtuelle Freunde. Zwei Silhouetten versuchen Kontakt mit dem Betrachtenden aufzunehmen.

Sind virtuelle Freunde echte Freunde?

Soziale Netzwerke machen`s möglich, aber: Sind virtuelle Freunde echte Freunde?

„Was für ein Blödsinn“ höre ich gedanklich einige bei dieser Überschrift denken oder gar laut rufen. Virtuell ist doch alles nur Fassade. Da wird übertrieben, verschönert, selektiert und geflunkert, was das Zeug hält. Eine künstliche Blase halt, nicht mehr und nicht weniger. Sind virtuelle Freunde echte Freunde – diese Frage kann sich auch nur stellen, wer im echten Leben keine Freunde hat.

Wirklich?

In den letzten Tagen habe ich immer wieder über dieses Thema nachgedacht. Anlass war der plötzliche Tod eines meiner virtuellen Netzwerkkontakte, der mich völlig unvorbereitet unerwartet heftig traf. Warum war ich so traurig über den Tod eines Menschen, den ich im echten Leben überhaupt nicht kannte? Wir sind uns hin und wieder virtuell begegnet, haben uns manchmal ein „gefällt mir“ geschenkt und noch öfter einfach weitergescrollt. Kein gemeinsames Thema, die Verbindung war sehr lose. Und doch hatte ich Herzklopfen bei der Nachricht, dass Kira Hanusa gestorben ist. Habe unsere Nachrichten nochmal gelesen, in ihrem Profil gestöbert, ihr Business auf Google gesucht – „dauerhaft geschlossen“ ploppte auf. Diese Endgültigkeit bestürzte mich in gleicher Weise, wie das auch der Fall ist, wenn eine Person in meinem Dorf stirbt. Ich muss nicht tagtäglich Menschen haptisch berühren, zusammen in Urlaub fahren oder ihnen Auge in Auge gegenübersitzen. Wenn ein Mensch stirbt, ist das für mich traurig, ob ich ihn nun real oder nur virtuell kannte.

Was sind überhaupt echte Freunde?

In der Regel wird darunter verstanden, dass da irgendwo ein Mensch ist, auf den ich mich immer verlassen kann. Der mir zur Seite steht, wenn ein Unglück über mich hereinbricht. Der sich mit mir freut, wenn mir etwas Gutes gelungen ist. Der mir ehrlich sagt, wenn ich auf dem falschen Dampfer bin. Wer sagt denn aber, dass es das nur real gibt und virtuell unmöglich ist? Ich denke da zum Beispiel an die Flutkatastrophe im Ahrtal. Waren dort nur echte Freunde zur Stelle? War es nicht vielmehr so, dass sich bislang völlig fremde Menschen aus allen Regionen persönlich auf den Weg machten, um ihren virtuellen Freunden zur Seite zu stehen? Sind virtuelle Freunde echte Freunde gewesen? Oh ja, das sind sie!

Es gibt aber noch weitere Gründe, warum virtuellen Freunden für mein Empfinden mehr Gewicht zusteht als gemeinhin angenommen:

  • In meinem Netzwerk gibt es auch ältere Menschen, die zum Teil körperlich nicht mehr in der Lage sind, aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen. Für sie sind virtuelle Freunde das Band zum Leben. Eine Möglichkeit sich auszutauschen, der Einsamkeit zu entfliehen und gleichzeitig durch ihre Lebenserfahrung etwas Wertvolles für die Gemeinschaft beisteuern zu können.
  • In meinem Netzwerk gibt es auch introvertierte Menschen, die eben nicht auf jeder Party und jeder Bühne anzutreffen sind. Für sie sind virtuelle Freunde eine Möglichkeit, genau so viel von sich selbst zu zeigen und zu geben, wie sie momentan bereit dazu sind. Sie können sich zeigen oder zurückziehen, keiner drängelt oder nervt. Und oft genug ist das der erste Schritt, um sich mehr zuzutrauen als jemals für möglich gehalten wurde.
  • In meinem Netzwerk gibt es auch Menschen, die unter psychischen Störungen leiden, die oft genug Anlass sind, sich im eigenen Schneckenhaus zu verkriechen. Für sie sind virtuelle Freunde eine Möglichkeit zu entdecken, dass sie nicht allein sind. Manchmal finden sie sogar Unterstützung. Sehr oft finden sie ein offenes Ohr, wo im echten Leben alle nur rast- und ruhelos umherhetzen.

Sind für mich virtuelle Freunde also echte Freunde?

Ja, das sind sie. Mit genau den gleichen kleinen Unterschieden, die es im realen Leben auch gibt. Einige kennt man nur aus der Ferne, mit anderen trifft man sich hin und wieder auf einen Plausch, und ein paar ganz besondere Menschen hat man tief ins Herz geschlossen. Das geht auch virtuell. Manchmal ist sogar gerade diese Besonderheit ursächlich für die Tiefe der Freundschaft. Gerade weil sie so „nicht greifbar“ scheint, wird in der Regel darauf geachtet, besonders behutsam vorzugehen. Achtsamer mit Worten zu sein, geduldiger im Handeln zu werden, einfühlsamer mit Zeit zu agieren.

Dass ich virtuelle Freunde habe, merke ich auch daran, dass mich feinfühlige Nachrichten erreichen, in denen mir ein offenes Ohr zum Reden angeboten wird, wenn ich etwas trauriges kommentiert habe. Dass mich eine Mail erreicht, die mich zum Schmunzeln bringt – genau zu einer Zeit, in der mir so gar nicht nach Schmunzeln zumute ist. Das macht mich glücklich. Wie könnte ich also virtuelle Freunde weniger wertschätzen als die angeblich echten? Für mich sind virtuelle Freunde echte Freunde. Du wirst es merken, wenn auch du ein virtueller Freund für mich bist. Die lasse ich so schnell nämlich nicht wieder los. Auch dann nicht, wenn es mal kriselt. Ganz besonders dann nicht.

Danke, mein Freund – Danke, meine Freundin.

Bildnachweis Canva

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