Mein Hochzeitsgeschenk Märchen “Die kleine Fee” ist einer Freundin gewidmet …
Es war einmal eine Fee, die war schon 2004 Jahre alt – denn Feen sind unsterblich, wie ja jedes Kind weiß. Es gibt gute Feen und böse Feen und jede von ihnen hat eine ganz besondere Aufgabe, die sie ihr Leben lang erfüllen muss.
Unsere kleine Fee aus dieser Geschichte war eine glückliche Fee, denn sie gehörte zu der guten Sorte. Genauer gesagt war sie eine Geburtsfee und ihre Aufgabe war es, bei der Geburt jeden Kindes dabei zu sein und das Schicksal dieses Kindes zu erkennen. Sie wusste, wenn das Kind seinen ersten Schrei ausstieß, ob diesem ein langes oder ein eher kurzes Leben bevorstand, ob es gesund oder krank sein würde, arm oder reich, beliebt oder unbeliebt – und an alledem konnte sie auch nichts ändern. Was sie aber konnte war, das passende Gegenstück zu diesem gerade erwachtem Leben zu sehen, den passenden Lebensgefährten, der selbst bei sonst eher ungünstigen Prognosen dafür sorgte, dass dieses Leben in menschlicher Hinsicht das glücklichste auf Erden werden konnte – vorausgesetzt, die beiden Menschen lernten sich auch wirklich kennen.
Die kleine Fee sah diesen Idealpartner bei jeder Geburtsstunde eines Kindes ganz klar vor sich, egal ob dieser andere Mensch bereits lebte oder noch gar nicht geboren war oder ob er sich derzeit in einem ganz anderem Land befand. Und sie flüsterte jedem neuen Leben in dessen erster Nacht, wenn es tief und fest schlief, den Namen seines zweiten Ichs ins Ohr und auch Hinweise, woran es zu erkennen war. Mehr durfte sie nicht tun. Sie durfte nicht eingreifen und persönlich dafür sorgen, dass die zwei sich trafen und erkannten. Sie durfte nur den Grundstock für das mögliche Glück legen, mehr nicht. Den Rest mussten die
Menschen schon allein machen.
Trotzdem war die kleine Fee glücklich über ihre Aufgabe. Sie sah praktisch bei jeder Geburt das vollkommene Glück vor sich. Wenn es allein nach ihrem Willen gegangen wäre, wäre die Welt voller glücklicher Menschen gewesen. Natürlich hätte es auch weiterhin Krankheit oder Armut oder Erdbeben oder Kriege oder andere traurige Dinge gegeben – die Welt ist schließlich kein Paradies – aber trotzdem wäre es mit dem richtigen Lebenspartner an seiner Seite möglich, tiefes Glück zu empfinden. Mit dem falschen allerdings ist jedes Unglück gleich doppelt schlimm und nichts Gutes kann daraus erwachsen.
Die kleine Fee hatte schon viel in ihren 2004 Feenjahren gesehen. Sie freute sich jedes Mal wie ein Schneekönig, wenn zwei Menschen die Gabe besaßen, die geflüsterten Worte der kleinen Fee tief in ihrem Herzen zu bewahren und zur richtigen Zeit sich an sie zu erinnern. Dann feierte die kleine Fee ein Riesenfest mit Zauberkuchen und Zaubergetränken, von denen sie so viel aß und trank, dass ihr am nächsten Tag noch der Bauch weh tat; und sie tanzte zur Feier eines solchen Tages zur extra bestellten Zaubermusik bis in die frühen Morgenstunden. Diese fröhlichen Feiern trösteten sie über die traurigen Leben hinweg, die sie
natürlich auch zu sehen bekam. Menschen, die zusammen lebten, sich aber gegenseitig das Leben zur Hölle machten. Menschen, die zusammen lebten, weil die Religion oder die Gesellschaft es ihnen nicht erlaubte, sich zu trennen. Oder weil der Eine arm und der Andere reich war und der Arme nie wieder so arm sein wollte, wie bevor er den Reichen traf und deshalb bei ihm blieb, obwohl alles Gold und aller Glanz doch nur äußerliches Glück erzeugten.
Oft, sehr oft, war die kleine Fee am verzweifeln, aber immer wenn sie glaubte, sie könne es nicht mehr ertragen, passierte eben doch wieder ein Wunder und so machte sie immer weiter mit ihren geflüsterten Botschaften, auch wenn die Menschen – je mehr die Jahrhunderte ins Land strichen – immer weniger auf sie hören wollten und überhaupt Feen total aus der Mode waren. Allenfalls noch gut genug, sie kleineren Kindern in einem Märchen zu schildern, aber selbst dann noch so, dass klar war, es gibt sie nicht wirklich. Ihre Aufgabe erschien ihr immer mühseliger, dabei gab sie sich so große Mühe!
Als unsere kleine Fee 1957 Jahre alt wurde, war sie bei der Geburt eines Knaben dabei, der auf den Namen Ulli getauft wurde. Sie hörte seinen ersten Schrei, blickte tief in seine Augen und sah all seine künftigen Stärken und Schwächen vor sich. „Er könnte ein sehr glückliches Leben führen“, dachte sich die kleine Fee. „Aber er braucht die Unterstützung eines anderen Menschen, um diese tiefe Einsamkeit, die er sonst immer spüren wird, zu verlieren. Wer mag das sein?“ grübelte die kleine Fee und sie konzentrierte sich ganz stark und da – aus weiter Ferne – sah sie ein kleines Mädchen. Es war noch gar nicht geboren, aber es war ohne Zweifel genau die Richtige. Und deshalb wartete die kleine Fee geduldig, bis der Knabe Ulli tief und fest schlief und dann flüsterte sie ihm ins Ohr, wie seine passende Gefährtin heißen würde und auch, woran er sie erkennen würde.
6 Jahre später wurde ein Mädchen geboren. Es hieß Anja und die Fee war wieder zur Stelle, als es seinen ersten Schrei ausstieß. Und sie blickte in ihre Augen und sah auch hier alle künftigen Stärken und Schwächen und etwas traurig erkannte sie, dass dieses kleine Mädchen es schwer haben würde, jemanden zu lieben, weil es sich selbst nicht liebenswert fand.
„Ein trauriges Leben“ dachte die kleine Fee „wer kann helfen?“ Und aus ihrer Erinnerung kam ganz klar das Bild des Knaben Ulli, der vor sechs Jahren geboren wurde. Und so wartete sie auch hier auf die Nacht, bis das Mädchen tief und fest schlief und dann flüsterte sie ihr den Namen ihres passenden Gefährten ins Ohr und auch, woran sie ihn erkennen würde.
So vergingen die Jahre.
Die kleine Fee musste mit ansehen, wie sowohl der Knabe Ulli als auch das Mädchen Anja völlig blind in ihre jeweiligen Ehen stolperten, als sie noch viel zu jung und unerfahren waren und momentane Zuneigung mit der großen Liebe verwechselten. Es kam wie es kommen musste – es ging nicht gut und die Paare trennten sich wieder und jeder blieb verletzt und einsam zurück. Im Laufe der nächsten Jahre verliebten sich beide noch einige Male – nicht ineinander, nein, sie waren sich ja noch nicht einmal begegnet. Sie verliebten sich jeder aus seinen eigenen Bedürfnissen heraus in einen Menschen, der diese zu befriedigen
schien.
Ulli ertrug die Einsamkeit schlecht. Er wollte einer Frau ein gemütliches Heim geben, für sie sorgen, für sie kochen, mit ihr die Natur erleben, mit ihr lachen – und er glaubte manchmal, die Richtige gefunden zu haben und bemühte sich dann so sehr, dass er Kompromisse einging und sein eigenes Wesen auf eine Art und Weise anpasste, dass er sich irgendwann selbst nicht mehr kannte. Das war dann der Zeitpunkt, seinen Irrtum zu erkennen und so kam es, dass er im Jahr – als unsere kleine Fee 2004 Jahre alt wurde – wieder alleine war und mittlerweile auch nicht mehr an sein großes Glück glaubte. Er lebte in seiner Wohnung, in der nur
noch die Hälfte der Möbel stand, denn die andere Hälfte hatte seine Gefährtin mitgenommen als sie sich trennten. Die sichtbaren Lücken schmerzten, aber er würde sie schon wieder füllen, nach und nach, nur nach seinen eigenen Wünschen. Er wanderte viel, er ging Sonntags – ein furchtbarer Tag für Singles! – zum Bogenschießen. Er mochte diesen Sport. Man war zwar unter Leuten und
doch war man auf sich selbst gestellt. Musste Kraft, Ausdauer, Zielsicherheit trainieren und gewann dabei eine innere Ruhe und Ausgeglichenheit, die ihm über den ganzen restlichen einsamen Sonntag hinweghalf. Er war nicht glücklich, aber zufrieden und glaubte fest, mehr könne er auch nicht erwarten.
Anja verliebte sich auch aus ihren eigenen Bedürfnissen heraus und das ging eigentlich recht rasch. Es brauchte bloß einer daher zu kommen, der ihr Aufmerksamkeit und das Gefühl schenkte, etwas Besonderes zu sein, und schon glaubte sie, dieses Mal den Richtigen gefunden zu haben. Wenn die Zeit dann zeigte, dass man eigentlich gar nicht zusammen passte, gab sie nicht auf und
strengte sich nur noch umso mehr an. Sie war fest davon überzeugt, es sich verdienen zu müssen, geliebt zu werden und jedes Scheitern zeigte ihr nur, dass sie sich nicht genügend angestrengt hatte. Natürlich ging es trotzdem nicht gut und im Jahr – als unsere kleine Fee 2004 Jahre alt wurde, war auch Anja wieder allein. Sie war zutiefst verletzt und unglücklich, glaubte bis an ihr Lebensende allein bleiben zu müssen und konnte sich doch überhaupt nicht damit zufriedengeben. Sie vergrub sich in ihre Arbeit, um möglichst wenig zu Hause sein zu müssen. Sie fühlte sich hier sowieso nicht mehr zu Hause, mit einer nur noch zur Hälfte möblierten Wohnung. Jede Lücke schürte ihre Zukunftsängste und sie floh davor so oft sie konnte. Sie zwang sich selbst dazu, weiterhin Sonntags zum Bogenschießen zu gehen – was hätte man auch sonst an so einem Tag anderes machen sollen, wo einem selbst bei einem harmlosen Spaziergang nur Paare und Familien ins Auge sprangen? Beim Bogenschießen war man allein
und doch wieder nicht allein; sie hatte diesen Sport durch Zufall in einem Urlaub entdeckt und nicht geahnt, welche Freude er ihr bereiten würde. So war sie sogar einem Verein beigetreten und selbst jetzt – verlassen, verletzt, verweint und verzweifelt – blieb sie diesem Ritual treu und zwang sich, Sonntags hinzugehen.
Unsere kleine Fee beobachtete die beiden jeden Sonntag. „Wie ist es möglich, dass sie sich nicht erkennen?“ rätselte sie. „Erinnert euch an eure erste Nacht! Ich habe es euch ins Ohr geflüstert!“ versuchte sie die beiden gedanklich zu beschwören. Aber es klappte nicht. Sonntag für Sonntag ging jeder allein seinem einsamen Leben entgegen. Die kleine Fee war verzweifelt.
„Wenn ich doch bloß etwas unternehmen könnte! Nur einen kleinen Wink! Es ist doch gar zu deprimierend, des Rätsels Lösung so klar zu erkennen und gar nichts unternehmen zu können. Wozu in drei Teufels Namen bin ich eigentlich eine Fee?“ dachte sie erbittert.
Da hörte sie auf einmal eine Stimme und sie erschrak zutiefst, denn diese Stimme hatte sie zwar noch nie gehört, aber sie wusste, dass sie dem großen Feenmeister gehörte und dass dieser sich nur dann zu Worte meldete, wenn eine Fee gar zu sehr mit ihrer Aufgabe haderte.
„Was willst du, Fee?“ donnerte er mit seiner Baßstimme. „Hast du nicht 2004 Jahre lang deine Aufgabe fleißig und gelehrig befolgt? Warum willst du auf einmal mehr und bist nicht mehr zufrieden? Ja, du hast höchst aufmüpfige Gedanken! Sprich! Was willst du?“
Erschrocken überlegte die kleine Fee, ob sie nicht einfach klein beigeben sollte. Vielleicht klappte es ja bald bei einem anderen Menschenpaar, wenn schon nicht bei diesem. War das wirklich so wichtig? Vielleicht glaubte ja auch der Feenmeister, sie sei nur vergnügungssüchtig und wolle bloß mal wieder Zauberkuchen essen und Zaubergetränke trinken und zur Zaubermusik tanzen? Nein, nein, nein, das muss ich auf jeden Fall klar stellen! Und so stellte sich die kleine Fee ganz aufrecht hin, holte tief Luft und erklärte mutig, dass diese beiden da – Ulli und Anja – füreinander bestimmt seien, dass aber jeder in der Vergangenheit so bittere
Enttäuschungen erlebt habe, dass sich nun keiner mehr traue, auf sein Herz zu hören und dass sie, die kleine Fee, sich einfach mehr als alles andere auf der Welt wünsche, den beiden zu helfen.
Erschöpft hielt sie nach diesem Redeschwall inne. War sie zu weit gegangen? War das aufmüpfig? Ihr war schlecht vor Angst. Aber da lächelte der Feenmeister – und das hörte sich an, als ob ein ganz heftiger Wind durch die Luft pustet und tatsächlich raschelten alle Blätter an den Bäumen im Umkreis von 10 Kilometern.
„So so“ sagte er und nun dröhnte seine Stimme nicht mehr so sehr, fast klang sie sogar fröhlich. „Du willst also helfen? Nun, kleine Fee, das kannst du sogar. Alle 2000 Jahre darf eine Fee sich selbst etwas wünschen, aber sie muss bereit sein, den Preis zu bezahlen.“
„Welchen Preis?“ wisperte die Fee.
„Der Preis besteht darin, dass du dein Leben als Fee verwirkst. Indem du diesen beiden da hilfst sich zu erkennen – und sei gewarnt, du hast nur einen Versuch! – dauert dein Feenleben nur noch so lang wie die beiden Menschenleben da dauern, denen du geholfen hast und für die du fortan verantwortlich bist. Deine Kräfte lassen nach. Du kannst zwar immer noch hilfreich eingreifen, wenn es einmal infolge eines Streites zwischen den beiden erforderlich sein sollte, aber sei auch hier gewarnt. Nach jedem Eingreifen werden deine Kräfte schwinden und darum überlege dir vorher gut, ob und wann du sie einsetzt. Und mit dem
Tode dieser beiden Menschen stirbst auch du. Das ist der Preis.“
Die kleine Fee schluckte. Das war wirklich hart. Und dann fiel ihr noch ein zu fragen: „Was ist denn dann mit meiner Aufgabe? Wer übernimmt die? Oder gibt es dann auch keine andere Geburtsfee mehr?“
Langsam fragte sie sich wirklich, ob der Preis nicht eindeutig zu hoch war. Für sich selbst mochte es ja noch angehen, aber wenn nun den zukünftigen Menschen keine Geburtsfee mehr zur Seite stünde? Wie sollten sich denn dann die Menschen noch finden?
Der Feenmeister zögerte etwas mit der Antwort.
„Ja, nun“ sagte er endlich, „eine Geburtsfee gibt es dann wirklich nicht mehr. Aber es gibt eine Chance und die haben allein die Menschen. Wenn wieder einige von ihnen anfangen, an Dinge zu glauben, die man weder sehen noch begreifen kann – und was sind Feen schließlich anderes? – dann, ja dann schenke ich den Menschen wieder eine Geburtsfee. Und ich werde höchstpersönlich dafür Sorge tragen, dass sie ihre Aufgabe mit genau so viel Hingabe meistert wie du“ fügte er schmunzelnd hinzu.
Die kleine Fee besann sich einen Moment und dann wurde ihr ganz leicht ums Herz. Sie hatte an die Kinder dieser Welt gedacht. Kinder sehen noch mit dem Herzen. Sie begreifen auch, dass nicht alles – was sie sehen – wahr ist, dass aber daneben manches – was sie nicht sehen – viel wahrer ist. Und Kinder würden bestimmt dafür sorgen, dass es bald wieder eine Geburtsfee gab.
Der Entschluss der kleinen Fee stand fest.
„Verehrter Feenmeister, ich bin bereit. Ich möchte diesen beiden da – Ulli und Anja – helfen und ich bin bereit, den genannten Preis zu zahlen.“
„So sei es“ erwiderte der Feenmeister und entfernte sich genauso leise und unbemerkt, wie er gekommen war.
Nun war die kleine Fee aber doch etwas nervös. Sie hatte nur eine Chance, dafür zu sorgen, dass die beiden sich erkannten, hatte der Feenmeister gesagt. Danach bestanden ihre Kräfte nur noch im Schlichten von Streitigkeiten und auch das nicht in unbegrenztem Maße. Sie durfte also auf gar keinen Fall versagen. Lange brütete sie über einem Plan und dann schien ihr der perfekte eingefallen zu sein.
Am nächsten Sonntag erwartete sie die beiden ungeduldig auf dem Sportgelände des Bogenschießvereins. Gott sei Dank – sie kamen beide. Und traurig und erregt zugleich sah sie, dass ihre Hilfe bitter nötig war, denn Anja sah noch kränker und blasser aus als sonst. Die kleine Fee wartete, bis Ulli seinen Bogen spannte und dann setzte sie sich auf ihren unsichtbaren Liebespfeil und verband diesen mit dem Pfeil in Ullis Bogen. Während dieser nun sein Ziel anvisierte, sorgte die kleine Fee dafür, dass er mit seinem Herzen statt des anvisierten Zieles nur Anja sah, und wenn er dann seinen Pfeil losschickte, würde dieser ganz normal seinem anvisierten Ziel entgegenfliegen, derweil der Liebespfeil mit der kleinen Fee darauf geradewegs in Anjas Herz schösse. So war der Plan der kleinen Fee.
Es war alles bereit. Ulli hatte seinen Bogen gespannt, den Pfeil kräftig und fest nach hinten gezogen und visierte ohne zu zwinkern sein Ziel an. Die kleine Fee – selbst aufgeregt und gespannt wie ein Flitzebogen – saß auf ihrem unsichtbaren Liebespfeil direkt auf Ullis eigentlichem Pfeil. Sie konzentrierte sich nicht minder als er, öffnete sein Herz und wiederholte ihre in der Stunde seiner Geburt geflüsterte Botschaft und da – sie sah es an seinem Blick – erkannte er sein zukünftiges Glück: er sah Anja, alle Spannung wich von ihm und der Pfeil schoss los. Die kleine Fee hatte ja schon manches erlebt, aber mit einer solchen Wucht loskatapultiert zu werden war so neu für sie, dass sie einen Moment brauchte, um sich vom irdischen Pfeil zu lösen und Anja anzusteuern. Ob sie sich hier den Bruchteil einer Sekunde zu spät gelöst hatte oder sich nicht fest genug konzentriert hatte oder wo sonst ein Fehler passiert war – die kleine Fee wusste es nicht und würde es auch nie herausfinden.
Tatsache ist aber, dass sie mit ihrem Liebespfeil nicht in Anjas Herz landete, sondern einen knappen Meter entfernt in einem Gebäckstück, einem Muffin um genau zu sein. Anja war nämlich gerade im Begriff gewesen, sich ein Kuchenstück zu holen, als die kleine Fee lossauste und sie so jämmerlich verfehlte.
„Ach du liebe Güte! Wie konnte das bloß passieren?“ jammerte die kleine Fee. „Da habe ich nur diese eine Chance und jetzt? Jetzt sitze ich hier in einem Muffin fest. Das ist nicht nur peinlich, das ist grotesk, das ist zum Schreien komisch, wenn man denn über so eine Katastrophe lachen könnte“ lamentierte die kleine Fee und vergoss bittere Tränen des Leids.
Sie war so sehr mit ihrem eigenen Jammer beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkte, wie Anja nun direkt vor ihr an der Kuchentafel stand und ihre Wahl zu treffen versuchte. Leckerste Sahnetorten, saftige Obststücke, herzhaftes Hefegebäck, einige Plätzchen, einige Muffins – was sollte man bloß wählen?
Die Frau hinter der Theke versuchte behilflich zu sein.
„Sahnestücke liegen einem immer so lange im Magen, findest du nicht? Und Plätzchen schmecken eigentlich auch nur in der Weihnachtszeit so richtig gut. Warum versuchst du nicht mal die Muffins? Die sind sogar selbstgebacken und zwar – ob du es glaubst oder nicht – von einem Mann!“
„So? Von wem denn?“ fragte Anja, denn ein Mann, der backen konnte, wo sie schon stolz auf sich war, wenn sie sich einen Milchreis kochen konnte, ohne hinterher den ganzen Topf wegen eines hartnäckig nicht zu entfernenden angebrannten Restes wegwerfen zu müssen – also so einem Mann muss man schon Respekt zollen.
„Der Ulli hat die gebacken.“
„Der Ulli? Ach, guck mal einer an“ murmelte Anja, wählte unter allen Muffins denjenigen aus, der am saftigsten aussah – jetzt war die kleine Fee doch glücklich über all ihre vergossenen Tränen! – und aß den Muffin ratzfatz auf.
Seit diesem Tag waren Ulli und Anja ein Paar. Sie machten aus zwei halbmöblierten Wohnungen eine ganze und wunderten sich nur. Wo der eine ein Sofa hatte, hatte der andere nur einen Couchtisch. Der eine hatte nur ein Bett aber keine Schränke, der andere kam mit Schränken aber ohne Bett. Es fügte sich alles so nahtlos ein, als hätte es schon immer zusammengehört und wenn die kleine Fee die beiden so erstaunt und fast verwirrt von dieser Übereinstimmung sah, lächelte sie in sich hinein und dachte nur: „Wenn ihr wüsstet!“
Und endlich hatte Ulli jemanden, den er mit all seiner Fürsorge überschütten konnte und diese dankbar angenommen wurde. Er fühlte sich nie mehr einsam. Und Anja fragte sich zum ersten Mal in ihrem Leben nicht, wie oder womit sie das verdient habe. Sie war zum ersten Mal glücklich mit sich selbst und darum auch in der Lage, Liebe zu geben und zu nehmen. Und als die beiden noch im gleichen Jahr heirateten, wunderten sich manche Menschen – solche, die natürlich nicht an Feen glaubten – und waren der Meinung, man müsse sich doch erst besser kennenlernen, bevor man diesen Schritt wage. Aber die kleine Fee fand, über 40 Jahre warten sei mehr als genug und wer weiß, wenn sie nicht eingegriffen hätte, ob es dann auch so glücklich ausgegangen wäre. Obwohl – fast hätte sie es ja vermasselt, sie dachte beschämt an den Muffin. Aber zum Glück ist es ja nochmal gut ausgegangen.
Auf dieser Hochzeit feierte die kleine Fee nun nicht wie bisher üblich allein mit ihrem Zauberkuchen, ihren Zaubergetränken und ihrer Zaubermusik. Nein, dieses Mal gehörte sie ja praktisch dazu. Sie war nun verantwortlich für die beiden. Sie würde zwar weiterhin unsichtbar bleiben, aber immer dabei sein. Sie tanzte und sang zu Menschenmusik, kostete von allen Speisen und Getränken (und verbannte jeden Gedanken an mögliche Übelkeit infolge Übersättigung konsequent aus ihrem Bewusstsein), sie lauschte dem fröhlichen Geplauder der Gäste und hatte fast das Gefühl, ihre eigene Hochzeit zu feiern.
Immer wieder schaute sie sich das Brautpaar an und jedes Mal war ihr Herz voller Freude und am Ende des Tages, als alle müde und erschöpft in ihren Betten lagen, flüsterte sie leise:
„Großer Feenmeister, falls du mich hörst….wollte ich dir bloß sagen: Der Preis ist es wert!“
Und so lebten sie glücklich solange, wie eine andere Fee es ihnen vorherbestimmt hatte. Aber das ist eine andere Geschichte …
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