Ein Artikel von Dr. med. Wilhelm Margula, Wien
Auf Basis seiner fast 40jährigen Erfahrung in der Geriatrie hat der Wiener Arzt Dr. med. Wilhelm Margula nicht nur für die „Neuen Alten“ ein Pflegefall-Tool[1] entwickelt, das die Selbstbestimmung der potentiellen Patientinnen und Patienten jederzeit – möglichst frühzeitig – unterstützen will. Dieses Tool und seine Entstehungsgeschichte stellt unser Autor in seinem Beitrag vor.[2]
Schicksale und medizinische Maßnahmen angesichts der demografischen Entwicklung
Ab wann ist ein Mensch alt? Diese Frage ist nur im Zusammenhang mit der Zeit, in der wir leben, zu beantworten – und selbst da nicht mit Bestimmtheit. Galt man vor knapp 100 Jahren schon mit 50 Jahren als älterer Mensch, fängt in heutiger Zeit die Blüte des Lebens oft erst ab diesem Alter an. Die Lebenserwartung der Menschen steigt zunehmend. Laut Statistik dürfen Männer derzeit mit durchschnittlich 79 Jahren Lebenszeit rechnen und Frauen mit durchschnittlich 84 Jahren. Zeit, sich mit dem Alter zu beschäftigen wird gern nach hinten geschoben. Das hat noch Zeit …
Es bleibt eine unumstößliche Realität: Am Alter führt kein Weg vorbei, außer der Tod ereilt uns früher. Ganz gleich, wie gesund wir uns ernähren, wie viel Sport wir treiben und wie ausreichend wir schlafen: Unser Körper altert mit der Zeit, Kräfte schwinden und das Gehirn wird weniger leistungsfähig, Zellen sterben ab. Das ist nicht schön, und doch ist es physiologisch so. Alt sein ist aber keine Krankheit, und Alt sein kann auch nicht geheilt werden. Kurative Medizin bleibt ohne Wirkung, palliative Medizin wird noch nicht benötigt – so sieht das Alter aus. Wenn das Leben es gut mit uns meint. Manchmal wird das Alter trotz aller medizinischen Fortschritte allerdings von Krankheiten begleitet, die uns zu Pflegefällen werden lassen. Haben wir bis zu diesem Zeitpunkt unser Leben wie selbstverständlich weitestgehend selbst bestimmt, verlieren wir diese Selbstverständlichkeit im Pflegefall schneller als uns lieb ist. Auf einmal entscheiden andere Menschen – Angehörige, Ärzte, Pflegepersonal – was für uns am besten ist. Dann kann es passieren, dass wir zwar gern für immer einschlafen möchten, weil eine unheilbare Krankheit uns ans Bett fesselt und jeglichen Lebenswillen aus uns heraussaugt, aber man lässt uns nicht. Wir werden im schlimmsten Fall künstlich ernährt oder sogar künstlich beatmet, wenn niemand weiß, was wir wirklich wollen, und wir selbst es nicht mehr sagen können. Unsere Selbstbestimmung nicht vorausschauend auf diesen Zeitpunkt ausgedehnt haben. Aber wann ist der Zeitpunkt gekommen, sich darüber Gedanken zu machen? Und könnten diese Gedanken – schriftlich fixiert und regelmäßig aktualisiert – nicht sogar Licht ins Dunkel der aktuellen Diskussion rund um die Sterbehilfe[3] bringen?
Wenn lautstark gefordert wird, Sterbehilfe in einem bestimmten Rahmen straffrei zuzulassen, wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, bevor es überhaupt darin gebadet hat. Über ein Menschenleben – auch das eigene – zu entscheiden kann niemals ein „demokratischer Mehrheitsbeschluss“ sein. Will der Gesetzgeber dem höchstpersönlichen Recht auf (assistierten) Suizid Rechnung tragen, indem er ein legales Tötungsmittel in Verkehr bringt, so hat er nach meiner festen Überzeugung zur Wahrung und zum Schutz der Leben seiner Bürger das Recht und die Pflicht, die Ernsthaftigkeit des Suizidwilligen gewissenhaft zu prüfen. Sein Entschluss kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wie kann ein Mensch wissen, ob er den heute bestehenden Wunsch zu sterben nicht morgen bereuen würde? Oder in einer Woche, einem Monat? Indem er sich seit längerer Zeit mit seinem Lebensende beschäftigt hat. Aus meiner Erfahrung ist dafür ein Zeitraum von mindestens fünf Jahren erforderlich. Nur wer sich nachweislich seit mindestens fünf Jahren mit den Möglichkeiten für sein eigenes Lebensende auseinandergesetzt hat, dürfte – wenn es nach mir geht – den Anspruch haben, ein Suizidmittel zu beantragen oder Assistenz zum Suizid ausüben zu dürfen. So wie es aktuell aussieht, kann die gefährliche Forderung nach straffreier Sterbehilfe – durch Zutun eines Dritten – nicht mehr sicher und eindeutig von Tötung (wenn auch auf Verlangen) abgegrenzt werden. Wir sprechen von Straffreiheit für assistierten Suizid, ohne legale Möglichkeiten des Suizids geschaffen zu haben. Brauchen wir überhaupt eine Diskussion über Sterbehilfe, sei sie nun aktive, passive oder indirekte Sterbehilfe? Oder sollten wir nur aufhören, Sterbende (gegen ihren Willen?) zu retten und das Leben von Hochbetagten (gegen ihren Willen?) mit allen Mitteln zu konservieren? Und wer weiß über deren Willen Bescheid?
Es ist ratsam, sich Gedanken über Selbstbestimmung im Alter auch dann zu machen, wenn das Thema „auch ich werde alt“ noch in weiter Ferne ist und Gesundheit unser Leben bestimmt. Das beängstigende Thema verliert etwas an Gewicht, wenn nichts Akutes in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Es fällt leichter, sich diese Fragen zu stellen: Was möchte ich, wenn der Tod bevorsteht und mein Geist keine vernünftigen Gedanken mehr zulässt? Was möchte ich, wenn etwas passiert und ich meinen im Voraus geplanten Willen nicht mehr äußern kann? Wer weiß von meinem Willen und wie aktuell wird er dann sein? All diese Fragen brauchen nach meiner Einschätzung kluge und durchdachte Antworten. Die im besten Fall dann gegeben werden können, wenn keine akute Gefahr droht.
Deshalb sollten jetzt Maßnahmen getroffen werden, und diese auch breitenwirksam kommuniziert werden, die die Bevölkerung dazu bringt, ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen und mehr Eigenverantwortung für Gesundheitsvorsorge und für Heilung im Krankheitsfall zu übernehmen. Ein Instrument dafür bietet die Patientenverfügung. Warum diese in ihrer derzeitigen Funktion vom Gesetzgeber gut gemeint, für den Menschen – der sie einmal ausgefüllt und anschließend sorgfältig abgeheftet hat – aber im Prinzip wertlos ist, darum geht es im nächsten Abschnitt.
Unterstützung in der Willensbildung vor Erstellen einer Patientenverfügung
Alle Wünsche werden unerfüllt bleiben, wenn niemand von ihnen weiß. Das gilt insbesondere für die Patientenverfügung. Über ihre Inhalte mit nahen Verwandten zu sprechen ist wichtig, damit die schriftlich fixierten Wünsche kein Geheimnis bleiben, sondern später auch respektiert und erfüllt werden können. Das Gespräch ist nicht leicht, schafft aber gemeinsames und gegenseitiges Verständnis dafür, was für Verfügende und ihre Lieben von Bedeutung ist. „Darüber sprechen“ kann Menschen einander näherbringen, die sich lieben. Schon ein einziges Gespräch kann alles verändern. Und wenn die Zeit gekommen ist, macht es die Erinnerung an das Gespräch leichter, Entscheidungen zu treffen. Die Inhalte der Patientenverfügung zu formulieren, und ein Gespräch darüber zu führen, ist wichtiger als das eigentliche Dokument. Gedanken müssen geordnet, Fragen gestellt und Überlegungen mit einbezogen werden. Je nachdem, wann diese Willensbildung stattfindet, unterscheiden sich die Fragen. Ein junger und momentan gesunder Mensch stellt sich andere Fragen als dies ein 70jähriger nach einem Unfall tut. Zudem ändern sich die Fragen im Laufe des weiterschreitenden Lebens, weswegen ein starres Dokument niemals zu empfehlen ist. Weswegen die Patientenverfügung in ihrer derzeitigen Form keinen Schutz für ein selbst bestimmtes Leben auch im Alter bietet, darauf gehe ich jetzt kurz ein. Und komme dann zu meiner Empfehlung.
Eine Patientenverfügung zu erstellen ist theoretisch leicht und praktisch schwer. Im Internet gibt es kostenlos Formulare für eine Patientenverfügung, die rasch ausgefüllt sind. Andere – zumeist kostenpflichtige – Patientenverfügungen lesen sich sogar für Mediziner wie eine wissenschaftliche Arbeit über den Hirntod. Ob derartige Patientenverfügungen befolgt werden, darf ebenso angezweifelt werden wie die Überlegung, ob sie wirklich das ausdrücken, was sich die Verfügenden tatsächlich in Bezug auf Behandlung und Betreuung für ihr Lebensende gewünscht haben. Hinzu kommt, dass eine Patientenverfügung solange ungültig ist, wie Patienten ihren Willen noch zeigen können. Hier wird es spannend. Denn wenn ein Patient den Arzt wegstößt, ist davon auszugehen, dass er nicht einverstanden ist mit dem, was erfolgen soll. Presst er die Lippen fest zusammen, wenn versucht wird, ihm Nahrung einzuflößen, ist davon auszugehen, dass er nichts zu sich nehmen will. Wird das immer so verstanden und akzeptiert? Keineswegs. Um Fehlinterpretationen auszuschließen, ist eine Patientenverfügung hilfreich. Seit 2009 gibt es das Patientenverfügungsgesetz. Damit hat theoretisch jeder die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, welche Maßnahmen ergriffen oder welche Behandlungen durchgeführt werden sollen und welche nicht. Die Verfügung gilt für den Fall, dass der Patient seinen Willen nicht mehr äußern kann. Sie schenkt den Patienten das Recht auf Selbstbestimmung bzw. spricht ihnen dieses natürliche Recht nicht automatisch ab, wenn ungestörte Willensbildung oder eine deutliche Willensbekundung nicht mehr möglich sein wird. Und sie bietet Rechtssicherheit für die behandelnden Personen (Ärzte und anderes medizinisches Personal) sowie Angehörige der Patienten. Und wieder wird es spannend. Und schwierig. Denn im Normalfall wird eine Patientenverfügung einmal erstellt, sorgfältig abgeheftet und schnell wieder vergessen. Jahre und Jahrzehnte können vergehen, bis der Fall der Fälle eintritt und dann gilt:
Ärzte können eine vor Jahren erstellte Patientenverfügung ganz einfach als nichtig abtun. Sie brauchen bloß behaupten, dass die aktuelle Situation des Patienten nicht jener entspricht, die in der Patientenverfügung als Voraussetzung für das Wirksamwerden beschrieben ist, und schon ist das ganze Dokument ungültig. Warum sie dies tun, kann mehrere Gründe haben. Ärzte wollen Leben retten und haben darauf einen Eid geschworen. Sie möchten nicht wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden. Ärzte möchten auch gern Erfahrungen sammeln, kranke Menschen eignen sich gut dafür. Und auch ein bisschen Arroganz kann eine Rolle spielen: Seht her, was ich kann!
Aber auch Angehörige missachten zum Teil ganz bewusst hinterlegte Patientenverfügungen. Ihr natürlicher Wunsch, den Menschen nicht gehen zu lassen, kollidiert mit dem dereinst schriftlich fixierten Wunsch der Verfügenden, keine lebenserhaltenden Maßnahmen zuzulassen.
Und so werden Hochbetagte künstlich am Leben erhalten, weil andere es so wollen, nicht aber der Hochbetagte. Auch wenn diese ein natürliches Lebensende bevorzugen, stehen diesem Wunsch emotionale und egoistische Gründe der Anderen gegenüber. Ärzte wollen womöglich beweisen, wozu Medizintechnik fähig ist. Sie betreiben „defensive medicine“ aus Angst vor Strafverfolgung. Angehörige lassen PEG Sonden[4] setzen, weil sie ihre Lieben nicht verhungern lassen wollen. Pflegeheimbetreiber sehen es ökonomisch: das teuerste Bett ist das leere Bett. All das ist trotz einer Patientenverfügung in ihrer jetzigen Form möglich. Das derzeitige Patientenverfügungsgesetz ist zahnlos, weil es keine Sanktionen vorsieht, wenn eine bindende Patientenverfügung von Angehörigen nicht vorgelegt oder befolgt wird und wenn Ärzte ihre Wirksamkeit bezweifeln. Dieser Umstand öffnet Tür und Tor für juristische Spitzfindigkeiten, mit denen wehrlose Patienten zehn Jahre und länger gegen ihren ausdrücklichen Willen am Leben gehalten werden können (vgl. BGH XII ZB 107/18). Das kann nur verhindert werden, wenn Patientenverfügung neu gedacht wird!
Eine Patientenverfügung sollte nicht als starres Dokument gesehen werden, sondern als ein dynamischer Prozess. Er beginnt mit einem ersten Text, der sich kontinuierlich gemäß der Biografie des Verfügenden weiterentwickelt. So wie wir heute anders auf unser Berufsleben blicken und andere Entscheidungen treffen als noch vor fünf Jahren, so ändern sich auch unsere Bedürfnisse und Wünsche im Hinblick auf unser Alter. Das BMJV (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz) empfiehlt eine jährliche Überprüfung, Erneuerung und Aktualisierung seiner Patientenverfügung. Dieser Prozess ist erst dann zu Ende, wenn das Dokument in seiner letzten Fassung tatsächlich zum Einsatz kommt, weil der Verfügende – nunmehr Patient – seinen Willen nicht mehr äußern kann. Durch regelmäßiges und ernsthaftes Überprüfen und Aktualisieren der Inhalte erlernt und übt der Verfügende schon frühzeitig Eigenverantwortung zu übernehmen und bewahrt sich sein Recht auf Selbstbestimmung. Das Dokument sollte bei jeder medizinischen Behandlung bewusst wahrgenommen werden. Für das Überprüfen, Erneuern und Aktualisieren einer Patientenverfügung bedarf es einerseits allgemeinverständlicher Formulierungen, die auch ein medizinischer Laie verstehen kann, als auch die Möglichkeit, seine eigene Entscheidung mit einer anderen Meinung zu vergleichen. Genau dabei hilft das Pflegefall-Tool.
Das Pflegefall-Tool als Instrument des mündigen Patienten
Resultierend aus den Schwächen des derzeitigen Systems und überzeugt davon, dass es Menschen gibt – ganz gleich wie „alt“ oder wie „krank“ sie sind – die kaum wie ein unmündiges kleines Kind behandelt werden wollen, habe ich das Pflegefall-Tool entwickelt.
Dieses Tool baut ethisch und rechtlich auf denselben Gesetzen auf, wie die Patientenverfügung in den D-A-CH Ländern (§ 1901a ff. BGB; § 4 ff. PatVG; ZBG Art. 370 ff.) Mit einem großen Unterschied: Es verlagert das Recht vom Arzt auf den Patienten. Nicht der Arzt hat das Recht zu behandeln, sondern der Patient hat das Recht behandelt zu werden und auch, eine Behandlung abzulehnen. In dieser Willensbildung unterstützt das Pflegefall-Tool – es macht aus einem hilflosen einen mündigen Patienten. Das Pflegefall-Tool formt und festigt den eigenen Willen. Es ist ratsam, das Pflegefall-Tool auch schon in jungen Jahren zu benutzen, wenn Gesundheit die Norm und Krankheit nur eine vage Möglichkeit scheint. Durch die empfohlene jährliche Überprüfung kann der zuvor geäußerte Wille – der zugleich als Patientenverfügung dient – entweder korrigiert oder gefestigt werden. Dabei lehrt das Tool – eine leicht zu bedienende App – durch die regelmäßige Benutzung, und der Algorithmus hilft durch Vergleich mit ähnlichen Fällen unter Einbeziehen der vom User angegebenen körperlichen, psychischen und sozialen Situation, eine Entscheidung treffen zu können. Die Fragen – mit zumeist multiple-choice-Antworten – sowie den Algorithmus der App haben Ärzte entwickelt. Die für die Berechnung maßgeblichen Kriterien entnimmt der Algorithmus den vom User beantworteten Fragen. Die App berechnet aus diesen Daten ein aus altenmedizinischer Kompetenz eindeutiges Ergebnis. Der Patient kann seine ursprüngliche Absicht mit dem aktuellen Ergebnis vergleichen und so eine stets gültige Willensbildung vornehmen.
Das Pflegefall-Tool bietet Unterstützung in unterschiedlichen Bereichen.
- Die Fragen und Antworten im PDF-Format sind heute der „rote Faden“ für Gespräche des Users und belegen morgen, dass die Entscheidung sorgfältig getroffen wurde.
- Das Tool hilft, sich über den eigenen Willen klar zu werden und ist zugleich eine Patientenverfügung, die wirklich dem aktuellen Wunsch des Users entspricht.
- Das Tool kann das Ergebnis für eine Maßnahme jederzeit neu berechnen, wenn sich die persönliche Situation des Users ändert.
- Das Tool kann für jede weitere Maßnahme ein Ergebnis berechnen, das der User mit seinem Willen vergleichen kann.
- Das Tool hilft bei Entscheidungen, wenn eine medizinische Maßnahme intuitiv abgelehnt wird, ohne sich dessen (Auswirkungen) wirklich sicher sein zu können.
- Das Tool erleichtert Gespräche des Users mit nahen Angehörigen über das Thema, weil es die Schwierigkeiten des „wie fange ich an, und was ist mir wichtig“ durch seinen strukturierten Aufbau erleichtert. Ein roter Faden, der ein Gespräch im wahrsten Sinn des Wortes durch den Inhalt führt, ohne etwas Wichtiges zu vergessen oder aus Scham nicht anzusprechen.
- Das Tool dokumentiert den Willen des Users und ist zugleich seine Patientenverfügung. Und zwar eine, die nicht mit juristischen Spitzfindigkeiten ausgehebelt werden kann.
- Das Tool zeigt auf, welche Fragen sich der User selbst und seinem Arzt stellen soll und berechnet aus den Antworten ein eindeutiges Ergebnis. So werden ärztliche Empfehlungen das, was sie im Grunde auch sind: Empfehlungen – keine Gesetze.
- Nur weil etwas möglich ist, heißt das nicht, dass es auch das Richtige ist. Schon einmal gar nicht für jeden und in jeder Situation. Das Tool stärkt den eigenen Willen und hilft, ihn auch durchzusetzen.
- Das Tool hilft auch bei Fragen, die der User bei anderen Menschen beobachtet hat und nicht weiß, wie er in der Situation entscheiden würde. Beispiel: Beim Besuch eines chronisch Kranken haben sich durch die Dialyse zwar die Blutwerte verbessert, der Gesamtzustand des Kranken hingegen massiv verschlechtert. Durch die Abfrage „Dialyse“ im Tool verarbeitet dies die Angaben und berechnet ein eindeutiges Ergebnis. Mit der Dialyse weitermachen oder nicht.
- Für das Pflegefall-Tool ist kein medizinisches Wissen erforderlich. Ob etwas medizinisch richtig ist, unterliegt der Beurteilung des Arztes. Das Tool unterstützt die Kraft, wie mit dem Vorschlag des Arztes umzugehen ist. Annehmen? Ablehnen? Das Tool verwandelt Unsicherheit in Sicherheit.
- Das Tool nimmt keinen Einfluss auf die Lebensdauer. Es bleibt Gott, der Natur oder dem Schicksal eines Menschen überlassen, ob jemand erkrankt, wieder gesund wird, aber auch, wann jemand stirbt.
- Für Dritte wiederum ist das Pflegefall-Tool ein Patientenwille, der umso gewisser und verlässlicher ist, je öfter er dokumentiert ist.
Fazit und Schlussbemerkungen
Sich mit dem älter werden zu beschäftigen kann nicht früh genug beginnen. Zum einen kommen wir alle meist in noch jungen Jahren in die Situation, dass unsere Eltern alt werden. Zum anderen bleibt auch uns das nicht erspart. Wenn wir Glück haben. Das Alter muss auch nicht zwangsläufig mit unheilbaren Krankheiten, geistiger Umnachtung oder gar bewegungslosem Vegetieren einhergehen. Alt und gesund ist durchaus eine Möglichkeit, und auch „einfach einschlafen“ ist manchen von uns vergönnt. Dieser Trost, den wir bei einer solchen Nachricht trotz allem verspüren, liegt in der Tatsache, dass er oder sie „wenigstens nicht leiden musste.“ Und genau das kann auch weitestgehend garantiert werden, wenn Menschen gegen Ende ihres Lebens das Recht auf einen freien Willen nicht einfach abgesprochen wird. Wer möchte, dass mit allen Mitteln versucht wird, sein Leben zu erhalten – auch wenn es künstliche Beatmung und/oder künstliche Ernährung bedeutet – hat ein Recht darauf, dass seinem Willen entsprochen wird. Wer das allerdings nicht möchte, der sollte darauf ebenfalls ein Recht haben.
Meine Tätigkeit liegt in der Beratung zwischen Behandlung und Begleitung. Dabei spreche ich immer aus geriatrischer und palliativmedizinischer Sicht (nicht aus onkologischer Sicht oder aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen). In meinen Gesprächen und Workshops hole ich Menschen da ab, wo sie gerade stehen und unterstütze sie dabei, ihre Selbstbestimmung – die sie ein ganzes Leben begleitet hat – nicht einfach wie ein abgetragenes Kleidungsstück abzulegen. Würde kennt kein Alter. Auch deswegen haben Patienten seit Anfang 2019 in Deutschland das Recht auf eine zweite Meinung. Das Recht soll einerseits den Patienten ihr Recht auf Selbstbestimmung bei medizinischer Behandlung bewusst machen und andererseits die Eigenverantwortung der Patienten stärken. Das Recht, auf natürliche Weise sterben zu dürfen, darf dabei meiner Überzeugung nach nicht einfach vom Tisch gefegt werden. Ein solches Recht könnte der Wegbereiter sein, die Grenze zwischen assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe zu markieren.
Mein Buch „Pflegefall? Nein, danke! Mit der Patientenverfügung selbst entscheiden“ (Facultas-Maudrich-Verlag, Wien, 2017) war ein erster Schritt, mehr Bewusstsein für diese Thematik in der breiten Öffentlichkeit zu erzielen. Die Entwicklung und Realisierung der App – dem Pflegefall-Tool – ist ein zweiter Schritt, der noch weit mehr Möglichkeiten bietet. Würden Krankenversicherer diese App kaufen und ihren Versicherten kostenfrei zur Verfügung stellen – könnte das auch Einfluss auf die Prämiengestaltung haben. So wie das John Hancock in der Lebensversicherung vorzeigt, indem das von Discovery entwickelte Vitality-Programm übernommen wurde.
Ob Michael Schumacher (Formel 1 Rennfahrer), dann noch am Leben wäre? Wer weiß. Vielleicht wäre es ihm lieber, einfach für immer einschlafen zu dürfen. Wenn man ihn gelassen hätte …
Wenn Würde kein Alter kennt, sollte auch Respekt vor keinem Alter haltmachen. Auch – und erst recht – nicht vor einem Hochaltrigen, dessen Leben sich dem Ende zuneigt.
Dr. Wilhelm Margula
[1] www.pflegefalltool.at und www.pflegefalltool.de
[2] Margula hat in diesem Zusammenhang 2017 ein Werk veröffentlicht, das sich mit der Selbstentscheidung und deren Hintergründe eingehend befasst: Dr. med. Wilhelm Margula: Pflegefall? Nein danke! Mit der Patientenverfügung selbst entscheiden. Maudrich Verlag, Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien 2017
[3] https://aelterwerden.eu/dialogforum-sterbehilfe-originalfassung/
[4] https://aelterwerden.eu/kuenstliche-ernaehrung-in-der-altenmedizin-ja-oder-nein/
Bildnachweis mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. Wilhelm Margula