Ein Geschenk für einen besonderen Menschen – mein Märchen für Jan David Ott
Es war einmal ein kleiner Junge mit dem ungewöhnlichen Namen Jandao, und das war nicht das einzig ungewöhnliche an ihm. Jandao fragte noch mehr als andere Kinder sämtlichen Menschen ein Loch in den Bauch. Er wollte alles wissen, alles verstehen und mit diesem Wissen die Welt ein bisschen schöner machen. Deshalb sammelte er goldene Wörter. Auf die Idee mit den goldenen Wörtern hatten ihn seine Eltern gebracht.
Als diese sich einmal stritten und seine Mutter seinen Vater anfauchte: „Immer muss ich alles allein machen“, fragte Jandao: „Wieso immer, Mama? Gestern hat Papa doch für uns alle gekocht.“ Seine Mutter wurde daraufhin fuchsteufelswild und fauchte nun Jandao an: „Jetzt leg doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage, Jandao. Du verstehst das nicht!“
Aber Jandao verstand sehr gut. Er verstand, dass seine Mutter im Moment zu wütend war, um die richtigen Worte zu finden. Die, die man auf die Goldwaage legen konnte. Goldene Wörter eben. Wörter, die selbst im Streit ein Licht leuchten ließen, anstatt mit Dunkelheit um sich zu werfen, bis alle blind waren.
Als Jandao älter wurde, hatte er bereits eine lange Liste mit goldenen Wörtern gesammelt und immer, wenn zwei oder mehr Personen anfingen sich zu streiten, raschelte er mit seiner Liste und mischte sich ungefragt ein. Das hatte eine seltsame Wirkung. Die Streithähne wurden ruhiger, ließen sich gegenseitig ausreden und achteten ein bisschen mehr auf ihre Worte. Manchmal war der Streit ganz schnell zu Ende, manchmal nicht, aber nie wurde es unfair. Alles wegen goldener Wörter wie „und“ statt „aber“. „Heute“ statt „Immer“. „Ich möchte“ statt „Du musst“. „Ich glaube“ statt „Ich weiß“.
Bald wurde Jandao immer gerufen, wenn sich Menschen uneins waren.
„Unser Jandao wird einmal ein berühmter Richter“, prahlte die Mutter. Und sein Vater glühte vor Stolz, als Jandao tatsächlich Jura studierte. Keiner von beiden ahnte, dass Jandao das Studium nur benutzte, um zu verstehen, wie man entscheidet, wer Recht hat und wer nicht. Und das Ergebnis ernüchterte ihn zutiefst. Denn Recht haben und Recht bekommen waren zweierlei Schuhe. Zum Entsetzen seiner Eltern wurde Jandao nach erfolgreichem Abschluss seines Studiums weder ein Richter noch ein Staatsanwalt. Ja, noch nicht einmal ein einfacher Rechtsanwalt.
„Sie sind nicht an einer echten Lösung des Streits interessiert“, versuchte er seinen Eltern zu erklären. „Sie verdienen einfach ihr Geld damit, ihrer Partei zu einem Sieg zu verhelfen, unabhängig vom eigentlichen Sachverhalt. Sie wollen auch keine echte Lösung, denn dann machen sie sich selbst überflüssig. Das ist nichts, was ich möchte.“
„Ja aber, was willst du denn sonst machen, Jandao?“ Seine Eltern rauften sich verzweifelt die Haare. „Du bist doch so klug und weißt doch so viel! Soll das denn alles für die Katz gewesen sein?“
„Ich weiß im Prinzip gar nichts“, seufzte Jandao und machte fortan nur noch das, was er schon immer gut konnte: Menschen im Streit zu einer echten Lösung zu verhelfen. Ohne Sieger und ohne Verlierer. Auf Augenhöhe und mit Respekt vor dem Gegenüber. Mit goldenen Worten, deren Licht er weitergab. Und von den Menschen, die mit ihm zusammen gesessen hatten, weitergetragen wurde.
Vielleicht war Jandao nur ein kleines Licht, aber sein Licht hat viele andere entzündet. Und die Welt heller werden lassen. Das, was er schon immer wollte, hat er geschafft: Er hat mit seinem Wissen die Welt ein bisschen schöner gemacht.
Lieber Jan David Ott, die Geschichte von Jandao habe ich für dich geschrieben und dabei an dich gedacht. Was ich dir noch sagen möchte, ist:
Menschen, die von sich sagen, dass sie noch nicht genug wissen – ja, dass sie im Prinzip nur wissen, dass sie nichts wissen – diese Menschen sind auf dem besten Weg, Großes in dieser Welt zu bewirken.
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