Kind gestorben – was kann bei diesem Schmerz helfen?

Wenn ein Kind gestorben ist - eine Familie nimmt Abschied

Das Kind von Rosa ist gestorben …

Ich lernte Rosa 2011 kennen. Sie war zu dem Zeitpunkt bereits über 80 Jahre alt. Ihr Kind war gestorben. Sie erzählte und hörte gar nicht mehr auf. Nachdem ich erfuhr, dass eine Psychologin ihr den Rat gegeben hatte, einen Brief an ihren verstorbenen Sohn zu schreiben und sie schluchzte, dass sie das nicht könne, habe ich für Rosa diesen Brief geschrieben. Rosa lebt heute nicht mehr, deshalb darf ich dieses persönliche Dokument mit euch teilen:

Mein lieber Sohn,


die Psychologin hat mir gesagt, ich soll dir einen Abschiedsbrief schreiben. Das würde helfen, wenn eine Mutter ihr Kind verliert. Aber ich kann das nicht! Und ehrlich gesagt, will ich das auch nicht. Wenn ich dir einen Abschiedsbrief schreiben könnte, hieße das ja, dass ich von dir Abschied nehme und ich will das nicht!
Ich will dich nicht loslassen, obwohl du tot bist. Es ist nun schon über ein Jahr her, und ich bin immer noch so schrecklich traurig und vermisse dich jeden Tag. Ich kann es einfach nicht begreifen, wie ein so junger – erst 47 Jahre, mein Gott! – vollkommen gesunder Mensch von einem auf den anderen Moment nicht mehr da ist. Du warst so groß und stark und gesund und fröhlich und hast deinen Urlaub in vollen Zügen genossen und dann –


Wie soll man das auch verstehen? Und wo bleibt da die Gerechtigkeit? Es gibt so viele alte Menschen und auch böse Menschen, warum leben die und du musstest sterben? Warum muss eine Mutter ihr eigenes Kind begraben? Warum lässt Gott es zu, dass eine Mutter ihr Kind verliert? Das ist gegen die Natur, so sollte es nicht sein! Ich fühle mich manchmal schuldig, weil ich lebe und du nicht. Ich habe mein Leben gelebt, aber du hattest deins doch noch vor dir. Dein eigener Sohn – mein Enkelchen – war gerade mal 15 Jahre alt. Kein Kind sollte in dem Alter keinen Vater mehr haben! Und keine Frau so früh Witwe werden. Es ist einfach nicht gerecht!

Ich bin auch zornig, ich weiß nur nicht genau, auf wen oder was. Und niemand kann mir helfen. Wenn manche Menschen zu mir sagen, die Zeit heilt alle Wunden, könnte ich sie ohrfeigen, so wütend bin ich dann. Ich weiß, sie meinen es nur gut, aber sie wissen nicht, wovon sie reden. Wer ähnliches durchgemacht hat, würde niemals so einen Blödsinn erzählen. Ich habe hier in der Klinik eine Frau kennen gelernt. Auch sie eine Mutter, die ihr Kind verloren hat. Eine Tochter, gerade mal 26 Jahre alt. Die hat mich verstanden! Das war eine ganz liebe Frau. Und wenn ich an sie denke, werde ich doch ein bisschen zuversichtlicher. Denn trotz dieses Schicksalsschlages ist sie ein offener, herzlicher und auch fröhlicher Mensch.

Und auch ich ertappe mich dabei, dass ich trotz meiner Trauer um dich manchmal lache, weil mir jemand etwas Lustiges erzählt. Oder ich freue mich über ein besonders leckeres Essen, oder über das schöne Wetter, oder weil dein Sohn mich zum schmunzeln bringt oder deine Frau mich besucht. Manchmal bin ich so traurig, dass ich glaube, ich kann gar nicht mehr aufhören zu weinen, aber manchmal muss ich bei der Erinnerung an dich auch lächeln – und das tut gut. Es heißt, wenn wir gestorben sind, treffen wir die Menschen, die wir geliebt haben, wieder, und das tröstet mich ein bisschen. Auch wir beide sehen uns also irgendwann wieder. Dann kann ich dir sagen, wie lieb ich dich habe und dich in den Arm nehmen – ich hatte ja leider keine Zeit mehr dazu und hoffe, du weißt das auch so und hast es immer gewusst.


Es ist komisch, mein lieber Sohn, aber das alles aufzuschreiben, hilft tatsächlich ein bisschen, weil ich das Gefühl habe, du hörst mir genau zu. Vielleicht nehme ich den Brief mit zu deinem Grab und vergrabe ihn dort, vielleicht trage ich ihn aber auch noch eine Weile bei mir. Ich weiß es noch nicht. Ich verspreche dir, auf deine Familie aufzupassen, soweit es mir möglich ist und ja – ich verspreche dir auch, auf mich selbst und deinen Vater aufzupassen. Ich weiß, dass du immer nur das Beste für uns alle gewollt hast und selbst jetzt möchte ich dich nicht enttäuschen und dich traurig machen. Also werde ich auch stark sein. Lass mich ruhig weinen, mein Sohn, ich werde immer traurig sein, dass du nicht mehr da bist. Aber sorge dich nicht – ich werde auch für jeden Tag, den Gott mir noch schenkt, dankbar sein.

In meinem Herzen lebst du immer weiter und wenn mein Herz aufhört zu schlagen, sehen wir uns wieder.
Bis dahin, mein über alles geliebter Sohn, lebe wohl.
Deine Mutter

Bildnachweis Canva

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