Anja Lamprecht-Löwe hat mir fünfeinhalb Fragen entlang meiner Lebenslinie gestellt
So ein Interview hatte ich auch noch nie. Es ging überhaupt nicht um mein Business, sondern ausschließlich um mich privat. Wobei Anja Lamprecht-Löwe sich genau darauf spezialisiert hat: Sie ist biografische Schreib-Begleiterin und entlockt Menschen ihre Storys. Geschichten, die es wert sind, in Erinnerung zu bleiben. Neugierig ließ ich mich auf das Experiment ein und beantwortete Anja die Fragen entlang der Lebenslinie. Meiner Lebenslinie. Und machte auf für mich selbst überraschende Weise eine kleine Zeitreise. In meine Kindheit, meine Jugend, mein erwachsenes Leben, bis hin zu einem schüchternen Blick in die Zukunft.
1) Welches Spiel oder welche Aktivität mochtest du als Kind am liebsten?
Als Kind war ich am liebsten draußen. Im Sommer mochte ich Ballspiele jeder Art besonders gern, unter Umständen auch allein (wenn kein anderes Kind zum Spielen Zeit hatte). Ich warf einen Ball gegen die Wand und musste – bevor er wieder zu mir zurückkam – selbst gestellte Aufgaben schaffen. Mich einmal um mich selbst drehen, fünfmal in die Hände klatschen, sowas halt. Die größte Schwierigkeit war ein Handstand dazwischen und ich gab nicht eher Ruhe, bis es geschafft hatte. Im Winter liebte ich Schlittschuhlaufen und Rodeln, auch da wieder mit selbst eingebauten Schwierigkeiten. Wenn ich es mir recht überlege, finde ich es heute lustig, dass ich schon damals Schwierigkeiten eher als Ansporn denn als Hindernis betrachtet habe, denn so ist es auch heute noch: Schwieriges reizt mich, ödes Befolgen bestehender Spielregeln langweilt mich relativ schnell. Im Gegensatz zu den eher körperlich betonten Spielen konnte ich allerdings auch stundenlang stillsitzen. Ein gutes Buch – und ich war für niemanden ansprechbar und vollends versunken in der jeweiligen Welt. Auch daran hat sich bis heute nichts geändert.
2) Erinnerst du dich an ein bestimmtes Buch, das dich in deiner Jugend geprägt hat?
Das erste Buch, an das ich mich sehr deutlich erinnern kann, ist „Toms Hütte“ von Harriet Beecher Stowe. Meine Schwester Anita (8 Jahre älter als ich) hatte es mir geschenkt. Noch nie zuvor hatte ich beim Lesen Herzklopfen gehabt, die Hände vor die Augen geschlagen oder laut geweint. Es war fast unmöglich, weiterzulesen und gleichzeitig war da ein unwiderstehlicher Sog, unbedingt weiterzulesen. Die Geschichte habe ich bis heute nicht vergessen und womöglich lag es an diesem Buch, dass ich so eine tiefe Verbindung mit den „anderen“, den „schwachen“ und den „schutzlosen“ Menschen aufbaute und mich noch heute für sie im Rahmen meiner Möglichkeiten einsetze. Ebenso neige ich noch heute zur Lektüre von Büchern, die mich gleichzeitig anziehen und abstoßen. Sie machen etwas mit mir. Sie zeigen mir, wie ich sein möchte und wie ich auf keinen Fall sein möchte. Ich fühle es mehr, denn ich es ausdrücken kann. „Wir müssen über Kevin reden“ oder „Die Bücherdiebin“ waren solche Bücher aus der neueren Zeit zum Beispiel. Großartig!
3) Welche Reisen hast du unternommen und in welchem Land fühlst du dich besonders wohl?
Tja, bei dieser Frage habe ich erst gezögert und wollte mir eine andere erbitten. Wissend, dass ich hier komplett abseits des üblichen Mainstreams liege. Zwar bin ich auch schon verreist, nur ist der springende Punkt: nie gern, nie aus eigenem Antrieb und nie mit Vorfreude. Ich bin schlichtweg ungern außerhalb meines Zuhauses. Tagesausflüge? Gern. Länger weg? Bitte nicht. Mir fehlt dann so viel, das ich brauche, um glücklich zu sein. Ich kann einfach nicht entspannen und zähle die Tage, bis es wieder heimwärts geht. Was meine kleine Familie betrifft, ist das auch überhaupt kein Problem. Auch mein Mann „braucht“ keinen Urlaub, wer weiß Gott wo. Und unsere zwei Hunde sind ohnehin froh, in ihrem gewohnten Reich bleiben zu dürfen. Nur für andere scheint es ein Problem zu sein, oder ich sehe in deren Fragen nur eins, wo in Wirklichkeit gar keins ist.
Beispiel: Erzähle ich, dass ich ab nächste Woche Urlaub habe, kommt unweigerlich die Frage: „Und? Wo fahrt ihr hin?“ Ich bin dieser Frage immer ausgewichen, weil ich mich komisch fühlte zuzugeben, dass wir nirgendwo hinfahren. Habe weder gelogen noch die Wahrheit gesagt und war regelrecht erleichtert, als Corona für uns alle eine nachvollziehbare Antwort lieferte: Urlaub zu Hause. Nach unserem Umzug habe ich mir allerdings ein Herz gefasst und auf die unvermeidliche Frage nach unserem Urlaubsziel „wir bleiben zu Hause, immer, wir fahren nie weg im Urlaub“ geantwortet. Und gestrahlt dabei, damit klar war, das gefällt mir und uns. Natürlich war da etwas Befremden in der Reaktion, aber ich wurde bei weitem nicht so komisch angeguckt und als „verrückt“ abgestempelt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ganz im Gegenteil! Ich traf Menschen, die zugaben, auch lieber Zuhause zu bleiben – unglaublich.
Deswegen beantworte ich diese Frage hier auch so offen. Um auch anderen, denen es so geht wie mir, Mut zu machen. Das zu tun, was sich für einen selbst richtig anfühlt. Nicht das, was „man so von einem erwartet.“
4) Was war die schwierigste Zeit während deines Berufslebens?
Eine Anstellung in einem Möbelhaus als Innenarchitektin, deren erster Auftritt von mir die Teilnahme an deren Weihnachtsfeier war. Eigentlich fand ich es eine tolle Idee, die zukünftigen Kolleginnen und Kollegen ein paar Tage vor meinem Arbeitsbeginn in zwangloser Runde kennenzulernen. Im Prinzip war es auch schön. Dass mir eine Kollegin spontan höchst unsympathisch war, machte ja nichts, sie arbeitete in einer anderen Abteilung als ich.
Problem: Es stellte sich heraus, dass sie die Geliebte meines Chefs war, sie gaben kurz nach meinem Beginn ihr Verhältnis öffentlich bekannt, die Frau des Chefs arbeitete ab sofort nicht mehr mit im Geschäft. Es kam, wie es kommen musste. Unfähig, meine anfängliche Abneigung – die sich mit dieser Tatsache noch massiv verstärkte – zu verbergen, begann ein subtiles Mobbing der feinsten Art. Ich hielt standhaft durch und zeigte keine Schwäche nach außen, innerlich ging ich vor die Hunde. Auch wenn ich das erst später merkte. Im Grunde war ich erleichtert, dass ich während einer Krankschreibung gekündigt wurde. Warum ich trotzdem geklagt habe, will mir heute gar nicht mehr in den Kopf. Auch wenn es richtig war. Denn a) war die Kündigung unzulässig und b) habe ich vor Gericht gewonnen. Ich hätte mich zwar fast übergeben, als ich auf die Frage des Richters, ob ich denn wieder dort arbeiten wolle, auf Anraten meiner Anwältin ein „ja“ herausgepresst habe, war aber kurze Zeit später mehr als erleichtert. Der Richter fand, das Vertrauensverhältnis sei zu zerrüttet, um eine weitere Beschäftigung sinnvoll zu finden und verdonnerte meinen ehemaligen Chef wegen „seiner beleidigenden Art mir gegenüber“ zu einer saftigen Abfindung. Das hat meine Würde etwas wiederhergestellt. Mein inneres Gleichgewicht hat etwas länger gebraucht, aber heute geht es mir gut.
5) Gibt es ein Thema oder Gebiet, mit dem du dich gern intensiv beschäftigen würdest, zu dem dir aber bisher die Zeit oder Gelegenheit fehlte?
Ich habe ja eine Tischlerlehre gemacht und in dieser Zeit auch zahlreiche Geschenke selbst hergestellt. Ein Puppenbett für meine Nichte, ein Holzpuzzle für eine andere, Stelzen für mich, einen Plattenständer für Peter (mein Mann), ein Stimmungsbarometer für meine Eltern. Toll war das! Damals träumte ich davon, mal eine eigene Werkstatt zu haben, in der ich Dinge für unser Zuhause selbst herstelle. Das eigene Zuhause haben wir seit letztem Jahr und allein die Restauration des vorhandenen Dielenbodens in meinem jetzigen Büro war zwar sehr zeitintensiv, staubig und nervenzehrend, aber auch wunderbar. Platz für eine kleine Werkstatt hätten wir auch. Also wer weiß? Sag niemals nie, das habe ich gelernt.
Einstweilen kommen wir auch mit all den Werkzeugen, die Peter als Handwerker so angehäuft hat, perfekt zurecht. Und haben jede Menge im und am Haus zu tun, bevor der nächste Traum ernsthaft angegangen werden kann. Etwas selbst mit den eigenen Händen herzustellen, befriedigt mich sehr und ist es höchst willkommene Abwechslung zu meiner Arbeit, für die ich nur meinen Kopf, eine Stromquelle und mein Laptop brauche.
Welche Person ist mein nächster schreibwilliger Lebenslinie-Interviewpartner?
Iris Kaufmann
Bildnachweis Sabine Krömer