Du bist stärker als du glaubst. Eine Fotokollage von Sabines Familie.

Du bist stärker als du glaubst

Andere bewunderst du oft wegen ihrer Stärke – und dich selbst?

Die meisten Menschen, die ich kenne, würden sich selbst niemals als stark bezeichnen. Im Gegenteil. Sie erzählen gern von anderen Menschen und bewundern deren Mut, deren Stärke und deren Kraft in Schicksalsschlägen, die sie selbst ganz gewiss niemals ertragen hätten. Auch ich bin so. Und erkenne manchmal erst durch den Blick anderer: Sabine, du bist stärker als du glaubst.

Was ich dir jetzt erzähle, soll nur ein Beispiel dafür sein, wie verzerrt die eigene Wahrnehmung sein kann. Ich möchte nicht auf die Tränendrüse drücken und erwarte auch keinen Kommentar dazu. Du sollst es nur als Beispiel nehmen, um über deine eigene Vergangenheit nachzudenken. Um in ihr zu erkennen, was auch du schon geschafft hast, von dem andere glauben, es sei unmöglich zu ertragen. Außerdem ist es für mich eine wunderbare Möglichkeit, meine Familie zu ehren und sie auf eine Art lebendig zu erhalten, denn zu ihrer Zeit gab es noch kein Internet und somit auch keine digitalen Vermächtnisse.

Mein Papa starb, als ich 27 Jahre alt war. Er wurde plötzlich schwer krank, kam ins Krankenhaus und wollte partout zu seinem Geburtstag wieder nach Hause. Die Ärzte entschieden, dass sei unmöglich, und wir alle glaubten den Halbgöttern in weiß mehr als Papa und versicherten ihm, das sei zu seinem Besten. Es waren nur noch wenige Tage bis dahin, und es ging Papa von Tag zu Tag schlechter. Am 22. Dezember – seinem Geburtstag – starb er. Bis heute fällt es mir schwer zu verzeihen, dass wir seinen Wunsch einfach beiseitegeschoben haben. Ohne ihn hat sich meine Welt verändert. Weihnachten und die Adventszeit – früher die liebste Jahreszeit – wurde für mich unerträglich und musste so schnell und unsentimental wie möglich hinter mich gebracht werden.

Das verstärkte sich noch, als meine Schwester Anita mit nur 48 Jahren an einem Heiligabend verstarb. Auch sie war krank und es war abzusehen, dass sie es nicht schaffen würde. Ihre Tochter versicherte ihr an Heiligabend, es sei ok zu gehen, und ein paar Stunden später ging Anita tatsächlich. Für immer.

Jahrelang hing der Dezember wie ein Damoklesschwert über mir. Ich war überzeugt, alles Schreckliche in unserer Familie würde nur im Dezember passieren. Dann, viele Jahre später, wurde meine 88-jährige Mama schwer krank. Sie lebte zu der Zeit schon in einem Pflegeheim, musste aber ins Krankenhaus und operiert werden. Als sie wieder zurück ins Pflegeheim transportiert wurde, starb sie auf der Fahrt. Es war ein sonniger Maitag.

Meine Schwester Monika – selbst in einem Heim – sollte es nicht erfahren. Es gab eine eigenartige Verbindung zwischen ihr und Mama. Sie konnten nicht gut miteinander, aber auch nicht ohne einander. Ich erzählte meiner Schwester Brigitte einmal, dass ich das Gefühl hätte, wenn Mama einmal stürbe, würde Monika ihr in kürzester Zeit folgen. Zehn Tage nach Mamas Tod rief Brigitte an und flüsterte in den Telefonhörer: „Monika ist tot.“

So, mir ist jetzt ein bisschen schlecht, wo ich das so zusammengefasst hier niederschreibe, und natürlich liegen Jahre dazwischen und sind auch seither vergangen. Außerdem betrifft es nur ein Thema unter vielen, an denen wir alle im Lauf des Lebens nicht vorbei kommen. Da muss jeder und jede durch. Vielleicht denkst du im ersten Moment – da du dies liest – auch, das hätte du an meiner Stelle nicht ausgehalten. Du irrst. Ich bin nun wirklich alles andere als von Natur aus robust und trotzdem habe ich es nicht nur überwunden, sondern bin wirklich glücklich mit meinem Leben. Habe verarbeitet, getrauert, gewütet und verziehen. Losgelassen und gleichzeitig tief in meinem Herzen bewahrt. Fühle Liebe und Dankbarkeit. Manchmal schmerzliche Sehnsucht. Dann erinnere ich mich an gemeinsame Erlebnisse, bis ich wieder lächele. Spüre meine Stärke. Ausnahmsweise. Es tut gut, sich daran zu erinnern. Hin und wieder.

Auch du bist stärker als du glaubst

Hadere nicht mit dir, wenn du dich schwach und verletzlich fühlst. Ich bin überzeugt, dass auch du stark bist. In der Stärke schwach sein zu dürfen ist zutiefst menschlich. Vergiss das nicht. Hör auf, andere Menschen wegen ihrer Stärke zu bewundern – du bist wie sie. Nur hast du das nicht immer präsent vor Augen, denn die Erinnerung tut auch weh. Ändert aber nichts an der Tatsache, dass du stärker bist als du glaubst.      

Bildnachweis Sabine Krömer

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