Bücher, die mich begeistert haben. Mein Buchtipp 28 – Unser Deutschlandmärchen
Der Autor meines Buchtipp 28 – Unser Deutschlandmärchen – Dinçer Güçyeter war mir bis dato völlig unbekannt, obwohl er bereits 2017 und 2021 zwei Bücher veröffentlicht hat und 2021 für den Berliner Verlagspreis nominiert wurde. Sein dritter Roman “Unser Deutschlandmärchen” gewann den Leipziger Buchpreis 2023. Das hat mich neugierig gemacht. Immer noch etwas überwältigt wage ich mich an eine Rezension, obwohl es zahlreiche im Netz zu lesen gibt.
Das Buch ist eine Geschichte mit vielen Stimmen.
Nicht nur Dinçer kommt zu Wort, auch seine Mutter Fatma erzählt, wie es aus ihrer Sicht war. Seinerzeit, in den 70ern, als sie wie so viele ihrer türkisch griechischen Landsleute nach Deutschland kam. Arbeit gab es hier genug für die zahlreichen Gastarbeiter. Angeblich wuchs das Geld in Deutschland auf den Bäumen und man brauchte es nur zu pflücken. So hatte man es Fatma erzählt, die man – damit es ihren Brüdern und ihrer Mutter Hanife besser gehe – verheiratet hat und in ein für sie fremdes Land pflanzte. Auch Dinçer – lang ersehnter Sohn – sollte es einmal besser haben als Fatma. Immerhin wurde er in Deutschland geboren und hatte alle Stolpersteine, die Fatma aus dem Weg räumen musste, erst gar nicht vor sich. Glaubte Fatma. Um eines Besseren belehrt zu werden. Denn “der Ort, auf dem deine Vorfahren geboren wurden, ist in deinem Gesicht immer sichtbar.”
Die Stimmgewalt im Buch ist ungewohnt blumig, geradezu poetisch.
Manchmal verhüllt sie mit ihren verzauberten Worten die Wirklichkeit so sehr, dass Verstehen schwer wird. An anderen Stellen ist die Sprache so rüde und gewalttätig, dass ein zarter Schleier zum Schutz geradezu sehnlich herbeigewünscht wird. Zwischen Anpassung und Tradition zerrissen fühlt man als Leser das, was nie ausgesprochen wurde, nie gelebt wurde, im Miteinander immer gefehlt hat. Eine emotionale Achterbahn, die mich das Buch regelrecht sanft zuklappen lies, um all den Verletzungen nicht noch eine weitere hinzuzufügen. Ich werde es nach einer Weile noch einmal lesen – die Geschichte über mehrere Jahrzehnte war einfach zu prall für nur einmal Lesen.
Eine persönliche Geschichte zum Abschluss:
Eine Kundin von mir suchte zur Unterstützung einen Monteur auf Minijob Basis. Wir schalteten einen Facebook Beitrag. Bereits einen Tag nach Veröffentlichung rief ein Mann an, stellte fest, dass er außerhalb der Geschäftszeiten anrief und meldete sich pünktlich zu Geschäftsbeginn wieder telefonisch. Nachdem die beiden sich gut miteinander unterhalten hatten, meinte der Mann, er wohne nur fünf Minuten entfernt und könne gern persönlich kommen, wenn es grad passe. Meine Kundin war entzückt. So viel Engagement – das war vielversprechend.
Als kurz darauf die Tür aufging, stutzte sie unwillkürlich. Der Mann war dunkelhäutig, hatte tiefschwarze Haare und einen ebensolchen Bart. Ihr erster Gedanke: “Was werden meine Kunden dazu sagen?”
Sich für eigene Gedanken zu schämen bedeutet auch Erkenntnis
Als sie es mir erzählte, war sie immer noch beschämt, diesen Gedanken gehabt zu haben. Ananth – so heißt der junge Mann – ist in Deutschland geboren, seine Eltern kamen vor vielen Jahrzehnten aus Sri Lanka nach Deutschland. Das alteingesessene Geschäft meiner Kundin kennt er längst, denn als 11-jähriger ging sein Schulweg genau dort vorbei. Ananth wurde in dem Ort, in dem meine Kundin ihr Fachgeschäft für Wasserbetten hat, geboren und lebt nun auch wieder hier.
Sein Studium als Werkzeugmacher hat er aufgegeben, nachdem zuerst sein Vater und dann seine Oma schwer krank wurden und er beide bis zum Tod pflegte. Ob er noch einmal das Studium beende und Vollzeit in seinem Job arbeite, wisse er noch nicht. Erstmal muss er sich von den vergangenen Monaten auch psychisch wieder erholen und ein Minijob kommt ihm da sehr entgegen. Aber meine Kundin müsse sich auch keine Gedanken machen, wenn er einmal wieder mehr Energie habe. Er könne viel arbeiten und würde sie auch dann nicht im Stich lassen.
Das haben wir erkannt und werden es umsetzen:
Meine Kundin und ich haben minutenlang ins Telefon geschwiegen, nachdem sie mir alles erzählt hatte. Sprachlos. Betroffen. Traurig. Sprachlos, dass es so viel Einsatz, Ehrlichkeit und Vertrauen heute noch gibt. Betroffen, dass der erste Gedanke kein Ausrutscher ist, der niemandem sonst passiert. Traurig, dass es so ist und keiner darüber redet, sondern beschämt schweigt.
Deswegen werden wir Ananth zusammen mit seinem neuen Team per Foto und Text allen Kundinnen und Kunden des Wasserbett Fachgeschäftes vorstellen, damit “keiner ihn durch komische Blicke verletzt.”
Ich wünschte, dieses Schubladendenken würde aufbrechen. Wir wären in unserem Denken schon weiter. Ich wünschte, wir würden mehr miteinander reden, damit sichtbar wird, was unterm Mantel der Toleranz und des Verständnisses immer noch nicht verstanden wurde.
Dinçer Güçyeter wuchs als Kind der ersten türkischen Gastarbeitergeneration in Deutschland auf. Seine Ausbildung als Werkzeugmechaniker machte ihn nicht glücklich. Er wollte schreiben! 2011 gründete er den ELIF Verlag, der schwerpunktmäßig Lyrik veröffentlicht und den er bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit finanziert.
Bildnachweis Lizenz erteilt von Mikrotext Verlag