Verzeihen oder Vergessen. Im Bild zwei Beichtstühle in einer Kirche.

Verzeihen oder Vergessen?

Verzeihen oder Vergessen? Was schenkt uns wirklich Erleichterung?

Glauben wir Religionen gleich welcher Richtung ist die Antwort auf die Frage, ob Verzeihen oder Vergessen die bessere Wahl ist, eindeutig: Verzeihen. Nur, wer aufrichtig verzeihen kann, ist wirklich frei. Wird nicht von heimlichem Groll aufgefressen, nicht von Gift durchströmt, versinkt nicht in Selbstmitleid und findet gottähnliche Ruhe in sich selbst. Denn Verzeihen, so heißt es, tut vor allem denjenigen gut, die es tun. Die Befreiung, die wir einem anderen durch unser Verzeihen schenken, wirkt sich auch unmittelbar auf unser eigenes Empfinden aus. Auch wir fühlen uns dann befreit. Ist das wirklich so und gilt es immer? Dieser Frage gehe ich hier nach.

Meine Einstellung zum Thema Verzeihen oder Vergessen hat sich geändert.

Bis in meine erwachsenen Jahre hinein war für mich auch klar: Im Verzeihen liegt der Schlüssel. Ein Grund mag gewesen sein, dass mir Verzeihen leicht fiel. Von Natur aus kein nachtragender Typ reichte eine aufrichtige Entschuldigung, um mich leichten Herzens verzeihen zu lassen. Zudem bin ich sicher, dass niemand einen anderen absichtlich verletzen will. Womöglich möchte ich es mir auch schlichtweg nicht vorstellen. Bedeutet: Ich erkenne an, dass jemand einen schlechten Tag hatte, unüberlegt gehandelt hat, eigene Interessen vor die anderer gestellt hat, Ziele auf Teufel komm raus erreichen wollte, nicht richtig nachgedacht hat oder mich schlichtweg ein bisschen auf die Palme bringen wollte. All das erkenne ich als menschliches Verhalten an, das niemandem fremd ist, inklusive mir selbst. Also warum nicht verzeihen?

Menschen, die nicht verzeihen konnten, habe ich mitleidig betrachtet. Diese armen Wesen. Wie muss es in ihrem Inneren aussehen, wenn sie nicht verzeihen können? Wenn sie alten Groll, alte Verfehlungen und alte Verletzungen Tag für Tag mit sich herumschleppen? Nein, nein, da bin ich zum Glück anders. War (!) ich anders.

Denn plötzlich passierte etwas, das ich mir selbst nicht verzeihen konnte. Und das, was mir bei anderen so leicht fiel – Verzeihen können – war mir mir selbst gegenüber völlig unmöglich.

Natürlich weiß ich rein theoretisch, dass ich nicht in böser Absicht gehandelt habe, nicht richtig nachgedacht habe, es nur gut gemeint habe. Trotzdem! Das Ergebnis war und ist unverzeihlich für mich. Da spielt es auch nicht die geringste Rolle, dass ich mit diesem Gefühl allein bin, weil mir schon längst verziehen wurde. Ich kann mir nicht verzeihen. Punkt.

An dieser Stelle habe ich angefangen nachzudenken. Ist alles verzeihen wirklich möglich? Gibt es nicht tatsächlich Unverzeihliches? Ich werde wohl kaum allein diese Erfahrung gemacht haben. Wie geht es also anderen? Unabhängig davon, ob sie selbst Unrecht getan oder Unrecht an ihnen begangen wurde. Wenn “Unrecht getan” so schwer zu verzeihen ist, ist es bei “Unrecht an mir begangen” tatsächlich leichter? Können Kinder verzeihen, die von ihren Eltern missbraucht wurden? Können Partner verzeihen, die jahrelang betrogen wurden? Können Opfer verzeihen, dass Gewalt an ihnen ausgeübt wurde? Mein Gott, es gibt da echt so einiges, bei dem ich denke: Nein, das ist unverzeihlich!

Und hier kommt Vergessen ins Spiel. Als Möglichkeit, dennoch nicht innerlich zu zerbrechen.

Ganz gleich, ob du nun dir selbst oder anderen nicht verzeihen kannst – es hilft, den Auslöser des Gefühls nicht immer und immer wieder in deinem Kopf kreisen zu lassen.

  • Wenn du eingesehen hast, dass Vergangenes sich nun mal nicht ändern lässt.
  • Wenn du eingesehen hast, dass sowohl du als auch dein Gegenüber zu dem Zeitpunkt nicht die Menschen wart, die ihr heute seid.
  • Wenn du eingesehen hast, dass man aus Fehlern maximal lernen, sie aber niemals rückgängig machen kann
  • Wenn du eingesehen hast, dass ein Weg zu innerlichem Frieden darin bestehen kann, auch bei aktuellem Streit niemals Vergangenes erneut aufs Butterbrot zu schmieren
  • Wenn du das lapidare “vergessen wir es einfach, Schwamm drüber” einmal real umsetzt

Wenn du das schaffst, kannst du sehr wohl in Frieden leben, auch wenn du nicht alles verzeihen kannst. Du bist deswegen keineswegs ein unfähiger Mensch. Du bist vielmehr ein Mensch, der menschlicher nicht sein könnte. Einen Gott hat es (wenn überhaupt) nur einmal gegeben. Mir selbst ist noch keiner begegnet. Deswegen suche ich nach Lösungen, die auch für Menschen und nicht nur für Götter praktikabel sind und Erleichterung verschaffen. Eine selbst provozierte selektive Demenz kann dabei helfen.

Falls du also mit dir haderst, weil Verzeihen dir schwerfällt: Versuch es einmal mit Vergessen. Es ist auch schwer, aber nicht so schwer wie Verzeihen.

Bildnachweis Canva

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