Bücher, die mich begeistert haben. Mein Buchtipp 26 – Späte Kinder
Während für Eltern ein Kind meist das bleibt – ihr Kind – gilt das für Kinder oft auch: Sie fühlen sich hin und wieder wie ein Kind. Verletzt. Zornig. Zu wenig beachtet. Zu wenig geliebt. Manipuliert. Bevormundet. Nicht ernst genommen. Das Alter spielt dabei so wenig eine Rolle wie das tatsächlich geführte Leben als Erwachsener. Tief in uns drin sind wir wohl alle Kind geblieben. Bis etwas Einschneidendes in unserem Leben passiert. Deshalb hat mich der Buchtitel spontan angesprochen, die Kurzbeschreibung neugierig gemacht und am Ende wusste ich: Das wird mein Buchtipp 26 – Späte Kinder.
Klappentext von Späte Kinder:
Die Zwillinge Sophia und Thomas waren sich immer nah, so unterschiedlich sie auch sind. Die treusorgende Mutter und Gattin eines Kunsthändlers Sophia erfüllt das bürgerliche Ideal der Eltern. Thomas, der Unangepasste, schlägt sich als freier Journalist durch. Der cholerische Vater ist seit Jahren tot. Als auch die Mutter stirbt, treffen sich die Zwillinge im Elternhaus, und beide haben Neuigkeiten: Thomas hat sich von seiner Freundin getrennt, die neue ist viel jünger als er. Und Sophia ist unheilbar an Krebs erkrankt; ihr bleiben nur Monate. Mehr als der nahende Tod quält sie die Frage: Habe ich überhaupt gelebt?
Beim Sichten des Nachlasses werden die Zwillinge von Erinnerungen heimgesucht. Sie streiten, verletzen einander und steigen tief ein in die Geschichte ihrer Familie. Sophia beschließt, ihr Leben zu regeln. Dazu gehört eine letzte Reise mit Tochter und Bruder. Doch unterwegs eskaliert die Stimmung. Und wieder müssen die Geschwister den Blick ganz weit zurück wagen, um nach vorne schauen und das letzte Stück des Weges gemeinsam gehen zu können.
Ein kluger, trauriger und Trost spendender Roman über den Schmerz, der Familie heißt.
Familie können wir uns nicht aussuchen, und doch prägt nichts so sehr uns, unsere Haltung, unseren Charakter, unsere Sicht auf die Welt wie eben die Familie. Kinder machen nicht selten die eigenen Eltern für alles verantwortlich, was im eigenen Leben nicht rund läuft. Eltern wiederum resignieren nicht selten, weil das Bild der kleinen heilen Familie mit der Realität wenig zu tun hat und die eigenen Kinder nicht nur Glück, sondern auch ganz viel Schmerz ins eigene Leben bringen. Familie ist selten harmonisch, zu viele Erwartungen und Gefühle prallen aufeinander, und zu unterschiedlich sind die eigenen Wahrnehmungen. Während wir anderen Menschen relativ leicht verzeihen können, dass sie anders sind und anders reagieren, als wir uns das vorgestellt und gewünscht haben, ist dies bei Familie deutlich schwieriger. Einfach, weil wir Teil von ihr sind. Mit ihren Auswirkungen leben müssen, unmittelbar davon betroffen sind.
Auch späte Kinder dürfen erwachsen werden
Familie kann Schmerz bedeuten. Und gerade, weil das so ist, darf uns bewusst werden, dass Familie auch Liebe bedeuten kann. Wo keine Liebe ist, besteht auch kein Grund, um Schmerz zu fühlen. Wenn Kinder späte Kinder bleiben, gilt das auch für Eltern. Auch sie waren Kinder und wurden geprägt. Es lohnt sich, sich für das Leben der eigenen Eltern wahrhaftig zu interessieren. Zu fragen. Sich erzählen zu lassen. Nicht erst dann darüber nachzudenken, wenn es zu spät ist. Nicht erst durch Tagebuchaufzeichnungen zu erfahren, wer Vater und oder Mutter wirklich war. Das ist zusätzlicher unnötiger Schmerz. Deshalb empfehle ich das Buch vor allem den Menschen, deren Eltern noch leben. Deren Familie noch vollzählig ist. Damit sie erleben können: Familie ist wie ein sicherer Hafen, in dem wir jederzeit willkommen sind. Liebe ist das tragende Fundament. Schmerz resultiert aus enttäuschten Erwartungen. Werden wir erwachsen und erwarten wir nicht mehr von anderen Menschen, als diese zu geben vermögen. Und das gilt auch für die eigene Familie …
Anselm Neft ist ein deutscher Schriftsteller und Publizist. Er schreibt neben Romanen auch Essays, Satiren, Kolumnen und Glossen und publiziert in diversen bekannten Magazinen.
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