Buchtipp 9 - Corpus Delicti. Coverbild des Buchs.

Buchtipp 9 – Corpus Delicti

Bücher, die mich begeistert haben. Mein Buchtipp 9 – Corpus Delicti

Als Juli Zeh 2009 den Text für meinen Buchtipp 9 „Corpus Delicti“ für ein Theaterstück geschrieben hat, überzeichnet sie bestehende gesellschaftliche Entwicklungen sehr stark. Einige reihen ihr Werk deswegen in die Gattung Science Fiction ein, die Autorin selbst sieht das anders. Ich auch. Es ist allerdings schon erschreckend, wie nah wir im Jahr 2022 an das von der Autorin gezeichnete Bild einer Gesellschaft im Jahr 2050 herangerückt sind. Kein Wunder also, dass “Corpus Delicti” sogar als zu unterrichtendes Abiturthema ab dem Schuljahr 2021/2022 in Baden-Württemberg aufgenommen wurde.

„Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation“ ist die METHODE im Jahr 2050, die Staatsform und geltendes Recht zugleich ist. Der Staat tut alles, um seine Bürger frei von Krankheiten zu halten. Der menschliche Körper wird in jeder Hinsicht optimiert. Krankheiten gehören aufgrund der funktionierenden Prävention in die Zeit der Vergangenheit. Jeder Bürger muss seinen Meldepflichten nachkommen. Schlafberichte und Ernährungstabellen einreichen, sportliche Mindestleistungen an – in jedem Haushalt befindlichen – Hometrainer absolvieren, Blutdruck und Urinmessungen durchführen und diverse Hygienemaßnahmen beachten und durchführen. Bakterien, Keime und Viren haben keine Chance mehr, den Menschen krank zu machen. Kinder werden nur noch gesund geboren, weil die zentrale Partnerschaftsvermittlung dafür sorgt, dass nur noch immunologisch kompatible Menschen sich vereinen.

„Wir haben eine Methode entwickelt, die darauf abzielt, jedem Einzelnen ein möglichst langes, störungsfreies, das heißt, gesundes und glückliches Leben zu garantieren. Frei von Schmerz und Leid. Zu diesem Zweck haben wir unseren Staat hochkomplex organisiert, komplexer als jeden anderen vor ihm. Unsere Gesetze funktionieren in filigraner Feinabstimmung, vergleichbar dem Nervensystem eines Organismus. Unser System ist perfekt, auf wundersame Weise lebensfähig und stark wie ein Körper – allerdings ebenso anfällig. Ein simpler Verstoß gegen eine der Grundregeln kann diesen Organismus schwer verletzen oder sogar töten.“

aus dem Buch “Corpus Delicti” von Juli Zeh

In dieser Welt lebt Mia, die sich durch den Selbstmord ihres Bruders (ausgelöst durch eine Verurteilung des Staates trotz beteuerter Unschuld von Moritz) in einer tiefen Phase der Trauer befindet und jegliches Hilfsangebot des Staates – um wieder ein funktionsfähiges Element der Gesellschaft zu werden – verweigert. Das aber wird schlichtweg als Widerstand gegen die Staatsgewalt interpretiert. “Corpus Delicti” erzählt die Geschichte eines Prozesses, in dem Mia nur durch ihre Verweigerung immer tiefer in eine persönliche Schuld gegenüber der Gesellschaft rutscht. Als sie mit Hilfe ihres Anwalts auch noch aufdeckt, dass ihr Bruder keineswegs der verurteilte Mörder seiner Geliebten war und das Urteil ein offensichtlicher Justizirrtum war, gerät die staatliche Macht unter Beschuss und Mia zu einer Gallionsfigur des Widerstands. Den jedoch gilt es mit aller Macht zu brechen.

Mein Buchtipp 9 “Corpus Delicti” ist kein Buch, das einfach gelesen werden will. Dieses Buch fordert zur Diskussion auf und wirft mehr Fragen als Antworten in den Raum. Fragen, deren Antworten mit darüber entscheiden können, wie unsere Welt 2050 wirklich aussehen kann. Fragen, die jeder sich stellen sollte und Hinterfragen zu einer positiven Eigenschaft werden lässt, statt nur als Störung eines vermeintlich sicheren Systems wahrgenommen zu werden.  

Juli Zeh ist eine deutsche Schriftstellerin. Ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig hat sie 1996 noch vor Abschluss des Jurastudiums begonnen und im Jahr 2000 mit dem Diplom abgeschlossen. In ihren literarischen Werken fragt sie sich, “ob und wie sich Sinn und Moral neu aufbauen lassen, wenn tradierte Werte bedeutungslos geworden sind. Wiederkehrende Motive sind die Fragen des Verlorengehens, des Zusammenhalts und der tragenden Normen und die Lebenswelt in einer Gesellschaft der Individualisierung und Globalisierung, in der keine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft einer Weltgemeinschaft mehr erkennbar wird.” Zitat Wikipedia

Auch das dem Buch angehängte Interview mit Juli Zeh ist hochinteressant. Vielleicht war es das für mich vor allem, weil ich mich in Teilen so sehr verstanden fühlte, wenn die Autorin vom Prozess des Schreibens erzählt. Auch ich schreibe gern intuitiv und planlos, lasse mich treiben und ungern unter Druck setzen. Finde meine Inspiration, indem ich mit offenen Augen durch die Welt gehe. Und stimme der Autorin aus ganzem Herzen zu, wenn sie schreibt:

“Erst einmal heißt es: schreiben, schreiben, schreiben.

Und natürlich: leben, leben, leben.

Damit man auch etwas hat, worüber man schreiben kann.“  

Juli Zeh

Bildnachweis Lizenz erteilt von Penguin Random House

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