Warum vergessen gut sein kann. Im Bild Vergissmeinnicht als Symbol für nicht vergessen.

Warum vergessen gut sein kann

Wäre es wirklich schön, sich an alles stets erinnern zu können?

Menschen mit einem phänomenalen Gedächtnis bewundern wir in der Regel. Wie machen die das bloß, und warum gelingt es nicht jedem? Ist es überhaupt so gut, wie wir uns das vorstellen, oder kann es nicht auch zu einer Last werden? Ich selbst gehöre zu der Sorte Mensch, die relativ schnell vergisst. Und dennoch sehe ich ganz klare Vorteile darin und teile sie gern mit dir: Warum vergessen auch gut sein kann.

Lernen fällt mir leicht: Neues Wissen sauge ich in der Regel wie ein Schwamm auf. Normalerweise müsste ich bei all dem, was ich in meinem Leben schon gelernt habe, eine wandelnde Enzyklopädie sein und ein Genie in diversen Bereichen. Bin ich aber nicht. Warum? Sobald ich das Wissen über einen längeren Zeitraum nicht aktiv brauche, verschwindet es in einem Bereich meines Gehirns, auf den ich keinesfalls bewusst und jederzeit zugreifen kann. Englisch ist ein gutes Beispiel. Selbstverständlich sprach ich es in meiner Schul- und Studienzeit flüssig und verstand alles. Jahrzehnte später und nie wieder aktiv gebraucht, fällt mir das Lesen (und noch mehr das Sprechen) deutlich schwerer. Manchmal lese ich bewusst Bücher in englisch – obwohl ich nicht alles verstehe und zu faul bin, jedes Wort nachzuschlagen. Nur, um meinem Gedächtnis durch aktives Tun ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Und tatsächlich, das funktioniert. Wenn auch langsam und mühsam.

Beispiele dieser Art kennen wir vermutlich alle. Ärgern uns über Arbeitsweisen, die uns “irgendwie abhanden gekommen sind.” Geburtstage, die wir ohne Terminplaner zuverlässig vergessen. Einkaufslisten, die wir erstellen müssen, weil wir sonst mit einem vollen Einkaufskorb zurückkommen, das Baguette für den Abend aber vergessen haben. Bücher, die wir lesen, um gegen Ende festzustellen: Das kenne ich doch schon. Vom Autoschlüssel, der sich in Luft aufgelöst hat, ganz zu schweigen.

Vergesslichkeit scheint also etwas Schlechtes zu sein. Etwas, das unser Leben schwer, kompliziert und unstrukturiert werden lässt. Uns mitunter sogar nachdenken lässt, ob das alles noch normal ist, oder schon in den Bereich einer beginnenden Demenz fällt.

Vergessen ist ein Schutz des Gehirns vor Überlastung.

Das Gehirn ist neuroplastisch. Es verändert sich Zeit unseres Lebens und passt seine Funktionen stets an, um auf neue äußerliche Einflüsse und Anforderungen adäquat reagieren zu können. Lernen ist ein Prozess, der nie endet. Das Gehirn trifft für uns nur Unterscheidungen zwischen “Wichtigem” und “Unwichtigem”. Es strukturiert, ordnet und sortiert aus und um. Deswegen haben wir auf manches besser Zugriff als auf anderes. Und manches – für uns vom Gehirn als unwichtig eingestuft – wandert in einen “kannst du vorerst vergessen” Bereich.

Stell dir vor, du würdest alles Schlechte und Traurige in deinem Leben nicht irgendwann “vergessen” können – wie würde das dein Leben beeinflussen?

Es gibt sie, diese Menschen. Sie bewahren jede kleine Kränkung, jede Ungerechtigkeit, die ihnen widerfuhr; jede vermeintliche Bosheit ihnen gegenüber in höchst lebendiger Erinnerung. Sie können dir bei jedem beliebigen Thema aus dem Stand ein Beispiel erzählen, wie schlecht es ihnen selbst in einer ähnlichen Situation ging. Da ist kein bewusstes Denken erforderlich, da brodelt alles direkt unter der Oberfläche. Wen wundert es da, wenn das Leben dieser Menschen mehr bedrückend denn bereichernd verläuft? Achte auf deine Gedanken …

Und genau da sehe ich den Vorteil beim Vergessen: Unangenehmes darf vergessen werden. Wenn es vorbei ist, wird es aktuell weder gebraucht noch nützt es irgendwem. Lass dein Gehirn seine Arbeit tun, es ist manchmal klüger als du selbst. Zwing es nicht, einem Ereignis eine Wichtigkeit beizumessen, die womöglich völlig übertrieben ist. Füttere es mit wertvollen, inspirierenden und dich stärkenden Inhalten. Lass es unter der Oberfläche ruhig und glatt werden, statt aufgebracht zu brodeln.

Im äußerst interessanten Buch “Die digitale Seele” der beiden Autoren Moritz Riesewieck und Hans Block fand ich diese mich inspirierende Aussage:

“[…] Erinnerungen, die bleiben, zeigen auch, dass etwas daran für uns von Bedeutung ist. Vergessen wiederum zeigt an, was für uns nachgeordnet ist oder womit wir uns nicht mehr auseinandersetzen wollen oder können.[…]”

aus dem Buch “Die digitale Seele

Mein Wunsch für uns alle: Erlauben wir uns zu vergessen. Wärmen wir nicht immer und immer wieder längst vergangene Streitereien auf. Hören wir auf, Gleiches mit Gleichem vergelten zu wollen. Befreien wir uns von Kleingeistigkeit und erlauben wir uns Größe. Vergessen wir nie, was wir anderen und uns selbst Gutes tun können. Das lohnt sich. Alles andere nicht.

Bildnachweis Canva

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